Als Christen Juden waren

Dr Dietrich Knapp
von Dr. Dietrich Knapp

Zur Entstehung des frühen Christentums gibt es jede Menge Bücher. Eigentlich scheint dazu alles gesagt zu sein. Dass hier noch neue Erkenntnisse zu gewinnen sind, scheint unmöglich. Nun ist aber in diesen Tagen in Stuttgart ein Buch auf den Markt gekommen, das einen eines Besseren belehrt. Es trägt den Titel „Als Christen Juden waren“ und stammt aus der Feder der amerikanischen Theologin Paula Fredriksen. Sie hat an der Boston University als Professor of Scripture gelehrt und arbeitet zurzeit als Visiting Professor an der Hebrew University in Jerusalem.

Der wichtigste Satz des Buches steht ganz am Ende des Nachwortes. So schreibt Fredriksen in Bezug auf die Anhänger:innen Jesu (S. 163).: „In ihrer eigenen Perspektive waren sie die letzte Generation der Geschichte. Erst aus der Perspektive der späteren Geschichte wurden sie zur ersten Generation der Kirche.“ In diesen beiden pointierten Sätzen zeigt Fredriksen, dass sie an dieses Thema anders herangegangen ist als viele andere vor ihr. Man ist gewohnt, dieses Thema im Lichte der ganzen späteren Kirchengeschichte anzugehen. Es geht eben um die Anfänge des Christentums, das sich dann auf vielfältige Weise weiterentwickelt hat. Es werden also Linien gezogen, zunächst von der Urgemeinde im 1. Jahrhundert nach Christus bis zur Konstantinischen Ära im 4. Jahrhundert. Danach verfolgt man die Entwicklung bis ins Mittelalter, weiter zur Reformationszeit und bis in die Moderne. Fredriksen macht deutlich, dass diese Betrachtungsweise dem Thema nicht angemessen ist. Die Anhänger:innen Jesu rechneten genauso wie auch Jesus von Nazareth damit, dass Gott sehr bald handeln würde und dass sein Reich in unmittelbarer Zukunft, noch zu ihren Lebzeiten kommen würde. Sie lebten also in der Erwartung des Endes der Welt. Ein Fortgang der Geschichte wäre für sie undenkbar und unvorstellbar gewesen. Dass ihr Tun zu einer Jahrhunderte langen (Nach-)Geschichte führen würde, wäre ihnen nicht im Entferntesten in den Sinn gekommen.

Man darf bei der Betrachtung des Themas also das, was später geschehen und sich entwickeln sollte, nicht mit berücksichtigen. Vielmehr muss man ausschließlich den unmittelbaren historischen Kontext zur Rekonstruktion heranziehen. Dieser unmittelbare Kontext ist nun ein ausschließlich jüdischer, kein christlicher. So versucht Paula Fredriksen, die Ereignisse, die sich um Jesus von Nazareth und besonders nach seiner Kreuzigung in Jerusalem zugetragen haben, als Teil der jüdischen Geschichte und im Zusammenhang mit anderen jüdischen Quellen zu verstehen. Sie interessiert die Zeit, „als Christen Juden waren“ und ein entstehendes Christentum in keiner Weise absehbar war. Vielmehr glaubten alle Anhänger:innen Jesu, dass das Ende der Zeit unmittelbar bevorstehen würde. Zu weiterführenden Entwicklungen würde es daher nicht mehr kommen.

Herodianischer Tempel Jerusalem/wikimedia.commons.jpg

Dieser Ansatz von Paula Fredriksen führt dazu, dass manche Ereignisse dieser Zeit einen anderen, einen neuen Akzent bekommen. Im Zentrum steht für Fredriksen in jeder Hinsicht der Tempel in Jerusalem, neben der Tora der Bezugspunkt für alle Jüdinnen und Juden. Auch Jesus, dessen Worte und Taten sie innerhalb des Frühjudentums verortet, habe ihm nicht kritisch gegenüber gestanden. Mit seiner Aufmerksamkeit erregenden Aktion im Vorhof, bei der er die Tische der Händler und Wechsler umgestoßen habe, habe er nur deutlich machen wollen, dass dem Tempel wegen des in Kürze hereinbrechenden Reiches Gottes keine Zukunft beschieden sei. Jesus habe also den Tempel mit seinem Kult nicht grundsätzlich kritisiert oder angegriffen. Der Tempel in Jerusalem sei auch in der Folgezeit für seine jüdischen Anhänger:innen von großer Bedeutung gewesen. Sie hätten sich nicht von ihm distanziert, sondern sich vielmehr dort gemeinsam getroffen und am Tempelgottesdienst teilgenommen, so wie es für Jüdinnen und Juden eine Selbstverständlichkeit war.

Interessant sind in diesem Zusammenhang auch Fredriksens Überlegungen zu den Ostervisionen der Anhänger:innen Jesu: „Die Erscheinungen nach Jesu Tod sagen uns etwas über Jesus und seine Anhänger. ‚Die Auferweckung‘ Jesu demonstriert zuallererst einmal das Maß an Hingabe, die Jesus von Nazareth bei der kleinen Gruppe seiner Anhänger in Hinblick auf ihn selbst und seine Weissagungen über das kommende Reich Gottes zu erwecken verstanden hatte. Sein Tod – unerwartet, traumatisch, verstörend – zwang all jene, die ihn nach Jerusalem begleitet hatten, zu einer plötzlichen Kehrtwende, konfrontierte er sie doch mit einer geradezu verwirrenden kognitiven Dissonanz: Wenn Jesus tot war, wie konnten seine Prophezeiung dann wahr sein? Wenn seine Prophezeiung wahr war, wie konnte er tot sein? Die Auferweckung löste diese Dissonanz und bekräftigte die Prophezeiung: Wenn Jesus auferweckt worden war, dann war das Reich Gottes tatsächlich nah“ (S. 75). In dieser absoluten Naherwartung lebten die Anhänger:innen also auch nach den Ostererlebnissen. Sie richteten sich nicht in der Zeit ein. Vielmehr versuchten sie, diese Erlebnisse im Rahmen ihrer (jüdischen) Traditionen zu deuten und zu verstehen: „Jesu eigene Auferweckung war für sie bedeutsam als das erste einer ganzen Kaskade zu erwartender Endzeit-Ereignisse“ (S. 84).

Paula Fredriksen verfolgt in ihren lesenswerten detaillierten Analysen dann die weitere Entwicklung bis zum Jüdischen Krieg und bis zur Eroberung Jerusalems durch die Römer im Jahr 70. Dabei setzt sie sich immer wieder mit Aussagen der Apostelgeschichte auseinander und versucht, sie kritisch im Rahmen des Frühjudentums zu interpretieren. Wer Interesse an einer historischen Rekonstruktion dieser Entwicklung in den ersten vier Jahrzehnten nach der Kreuzigung Jesu hat und sich auf eine andere, eine ungewohnte Perspektive einlassen möchte, dem sei dieses Buch sehr empfohlen.

Deutsche Ausgabe: Paula Fredriksen: Als Christen Juden waren, Stuttgart 2021

Englische Ausgabe: When Christians were Jews. The First Generation, New Haven und London 2018

Jerusalem 1. Jhd. n. Chr./wikimedia.commons.jpeg

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