Anonymus: Deportation aus Berlin ins Warschauer Ghetto

Dr. Uwe Gerrens
von Dr. Uwe Gerrens

Anlässlich des Holocaust-Gedenktages (Jom Hashoah) dokumentieren wir dem Bericht eines jüdischen Leiters des „12. Berliner Transports“, der von einer Deportation ins Warschauer Ghetto handelt (2.-4. April 1942). Der Autor ist unbekannt. Wie aus dem Bericht vorgeht, ist er an die jüdische Gemeinde in Berlin gerichtet. Ein Original konnte nicht ermittelt werden und wurde vermutlich aus gutem Grund nicht aufbewahrt. Eine entpersonalisierte Abschrift („es folgen elf Namen“) fanden sich unter dem Bestand, der nach offizieller Schließung ihres Berliner Büros im Untergrund immer noch tätigen „Zweiten Vorläufigen Kirchenleitung“ der Bekennenden Kirche. Die Abschrift lliegt heute im Evangelischen Zentralarchiv Berlin.

https://ezab.de/digitalisate/0050/00110

Wie eine weitere Abschrift von Berlin nach Genf gelangte, konnte ich nicht ermitteln. Die Dahlemer Bekennende Kirche beschäftigte illegal mit einer halben Stelle Gertrud Staewen als Sozialarbeiterin in der „Nichtarierfürsorge“. Staewen verfügte durch eine Reihe vertraulicher Kuriere über einen engen Kontakt zu Adolf Freudenberg, Leiter des Flüchtlingsreferates des noch in Entstehung begriffenen Weltkirchenrates. Ich möchte mutmaßen, dass der Bericht über diesen Weg die Grenze passierte. Unter Freudenbergs eigenen Akten befindet sich kein Exemplar. Vermutlich vernichtete er es selbst gemeinsam mit anderen Akten, als er im März 1943 alles verbrannte, was deutschen Kontaktpersonen hätte Schwierigkeiten bereiten können, weil man in der Schweiz einen Einmarsch der Deutschen fürchtete. Freudenberg hat aber eine maschinenschriftliche Abschrift an Abraham Silberschein vom Relief Committee for Jewish War Victims in Genf weitergereicht. Dessen Exemplar enthält die handschriftliche Herkunftsangabe „Bericht von Pastor Freudenberg“ und, zweimal unterstrichen, „vertraulich“.

Online: https://documents.yadvashem.org/index.html?language=en&&TreeItemId=3687190

Ein drittes Exemplar schickte Freudenberg am 6.6.1942 an Gerhard Riegner vom Genfer Büro des Jüdischen Weltkongresses. Es befindet sich heute in den Central Zionist Archives in Jerusalem, von wo aus der Text in die große sechzehnbändige Quellensammlung zur Verfolgung und Vernichtung der Europäischen Juden eingegangen ist; die Herausgeber haben die komplizierte Überlieferungsgeschichte allerdings nicht ermittelt.

https://collections.ushmm.org/findingaids/RG-68.045M_01_fnd_en.pdf  C3/221

Deportationsberichte sind erklärlicherweise selten. Bei diesem Bericht stellt sich die Frage, ob er per Post von Warschau nach Berlin transportiert wurde. Der Briefverkehr wurde kontrolliert und unterlag der Ghettozensur. Die Verhältnisse mussten beschönigt werden. Außerhalb des Ghettos war Briefverkehr möglich, wurde aber von der Gestapo mitgelesen. Auch dieser Bericht unterlag vermutlich dem Vorbehalt, dass der Absender nichts schreiben durfte, was hätte bekannt werden dürfen. Allerdings mussten die Briefempfänger nicht sehr zwischen den Zeilen lesen, um zu begreifen, worum es ging, wenn es etwa heißt, dass es „den Verhältnissen entsprechend“ sowohl qualitativ als auch quantitativ Essen und Trinken gab, wenn 120 Menschen in einem einzigen ehemaligen Klassenzimmer schlafen sollten, wenn an einem Tag 11 von 2000 Menschen starben und das eigene „Wohnheim“ am Ghettoeingang ein „Paradies“ sein sollte im Verhältnis zu den sehr viel bedrängteren Verhältnissen im Ghetto selbst. (Uwe Gerrens)

„Erst heute komme ich dazu, Ihnen in kurzen Umrissen einen Bericht über die Fahrt und das Ergehen des 12. Berliner Transportes zu senden.

Am 5.4. gegen 8 Uhr kamen wir in Warschau an. Die Fahrt selbst verlief, außer einigen kleinen Zwischenfällen, reibungslos, und mit 2 Ausnahmen kamen alle gesund an. Die beiden Erkrankten wurden sofort einem Spital überwiesen. Der eine erschien nach 8 Tagen wieder völlig hergestellt. Sämtliches Gepäck, auch das Handgepäck aus den Coupés, wurde sofort in unsere Unterkunft gebracht und kam mit uns zu gleicher Zeit in unserem Wohnheim an. Bei der Ankunft auf dem Bahnhof begrüßte uns der Präses des Judenrates [Adam Czerniaków] mit einigen leitenden Herren der verschiedenen Hilfskomitees. Wir wurden in einer ehemaligen Schule, die auch eine Zeitlang als Seuchenlazarett gedient hatte, in der Gerichtsstraße [Leszno-Straße] 109, untergebracht und wohnen auch heute noch in diesem Gebäude. Die Hilfsbereitschaft der verschiedenen Komitees ist unerhört groß. Leider ist die Möglichkeit zu helfen nicht so groß, da die Mittel an allen Ecken und Enden fehlen. Wir können nur mit Verpflegung unterstützt werden. Alle anderen Dinge des täglichen Lebensbedarfes können uns bedauerlicherweise nicht gewährt werden. Ich konnte am Tage unserer Herkunft sofort Verbindung mit einigen Herren aufnehmen und mit ihnen über die Zukunftsmöglichkeiten eingehend sprechen. Damals hieß es zunächst, daß wir nur einige Tage in unserem provisorischen Heim bleiben würden. Wir wohnen noch immer hier. Vorläufig scheint noch keine endgültige Regelung getroffen zu sein, worüber ich allerdings mit allen Vernünftigen sehr erfreut bin. Ich bitte, bei dieser Gelegenheit Kenntnis von unserer Adresse zu nehmen: Gartenstraße [Ogrodowa Straße] 27. Von dort erhalten wir täglich unsere Post zugestellt. Sendungen direkt in unser Wohnheim sind nicht zweckmäßig. Der zusätzliche Vorname [Israel bzw. Sarah] ist nicht erforderlich.

Mit uns zusammen wohnen weitere ca. 1000 Menschen aus einem 3 Tage früher hier eingetroffenen Transport, der aus Hannoveranern und Westfalen zusammengesetzt war. […] Es gibt den Verhältnissen entsprechend sowohl qualitativ als auch quantitativ Essen und Trinken. Immer wieder bin ich gezwungen, die Menschen darauf aufmerksam zu machen, daß sie in ihrem augenblicklichen Heim im Paradies leben und daß sie im jüdischen Wohnbezirk – die hier offizielle Bezeichnung für das abgegrenzte Judenviertel – bedeutend schlechter leben müßten. Aus unseren beiden Transporten wurden gleich in den ersten Tagen insgesamt 165 junge Männer von 17–35 Jahren in ein ca. 2–3 Stunden entferntes Arbeitslager versetzt. [Bau des Vernichtungslagers Treblinka] Wir erhielten heute Nachricht, daß es ihnen gut gehen soll. Beim hannoverschen Transport befinden sich 3 Lehrer, die einen Unterricht für die schulpflichtigen Kinder beider Transporte eingerichtet haben. Einige Kindergärtnerinnen betreuen zu regelmäßigen Stunden die vorschulpflichtigen Kinder. Unsere beiden Ärztinnen und das Sanitätspersonal haben bedauerlicherweise Tag und Nacht ungeheure Arbeit zu leisten, da sehr viele Erkältungskrankheiten aufgetreten sind, die sich als sehr hartnäckig herausgestellt haben. Leider haben wir heute folgende Todesfälle zu verzeichnen (es folgen 11 Namen). Soweit ich es überblicken kann, werden es leider nicht die letzten sein. Das Sanitätspersonal setzt sich voll und ganz für die ihnen Anvertrauten ein und hat Tag und Nacht keine Ruhe, zumal auch der aus dem hannoverschen Transport stammende Arzt als jüngerer Mensch in das Arbeitslager versetzt wurde. Ca. 10 Personen sind von ihren Angehörigen ins Ghetto angefordert worden.

[…] Alle Fahrt-Teilnehmer haben mich gebeten, ihren Dank Ihnen und allen Mithelfern der jüdischen Kultusvereinigung für Ihre beispiellose Opferbereitschaft anläßlich des Transportes zu übermitteln. Gern denkt man noch an die Unterstützungshilfe in Berlin zurück und ist des Lobes voll über die Betreuung und ganz besonders die Verpflegung in der Levetzowstr. und im Grunewald.

Gleich zu Beginn der Abfahrt mußte ich auf das Energischste darauf aufmerksam machen, daß mit den uns mitgegebenen Lebensmitteln gespart werden muß, und hatte das uns überlassene Trinkwasser sofort rationiert. Mit dieser Maßnahme hatte ich insofern recht, daß wir unterwegs nur 2 mal Gelegenheit hatten, in kürzester Frist eine geringe Menge frisches Wasser zu fassen. […] Ich muß immer wieder betonen, daß die Herren der Hilfskomitees hier, im Rahmen der ihnen gegebenen Möglichkeiten, Unerhörtes leisten und den allerbesten Willen haben. Die Mittel, die ihnen zur Verfügung stehen, sind aber erschütternd gering.

Freitagabend und Sonnabend werden von den 3 Lehrern so gut wie möglich Gottesdienste durchgeführt, für die Jugend ein Jugendgottesdienst (oneg Schabbath). Die Lehrer und Kindergärtnerinnen erhalten täglich Unterricht in der polnischen Sprache. Ich bitte, wenn möglich, Angehörige von Abgewanderten immer wieder darauf aufmerksam zu machen, daß sie bei Schriftwechsel stets eine Antwortkarte mit zur Absendung bringen, da der Kauf von Postkarten hier insofern unmöglich ist, als noch kein Geld verdient wird und das Komitee von seinen geringen Mitteln nicht für jeden Einzelnen Postkarten zur Verfügung stellen kann. Wir haben immer noch eine Anzahl von Menschen, die noch keine Gelegenheit hatten, ihren Angehörigen zu schreiben. Es wurde daher eingeführt, daß der glückliche Besitzer einer Postkarte für mehrere Transport Teilnehmer an seine Angehörigen schreibt, die dann die betreffenden Verwandten zu benachrichtigen haben. Alle die mir anvertrauten Menschen fragen mich immer wieder, ob die Absendung von Päckchen, ev[entuell] auch Geldsendungen, aus Deutschland möglich ist. Ich bitte, die Frage zu klären und entsprechende Auskunft zu erteilen.

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