Appropriation – oder: Was Winnetou mit der Theologie zu tun hat

von Dr. Martin Fricke

In dem Kinofilm „Der junge Häuptling Winnetou“ gibt es eine Szene, in der Winnetou und sein Freund Tom Silver durch die brütend heiße Steppe reiten. Tom schwitzt ohne Ende. Irgendwann dreht er sich zu Winnetou um, dem die Hitze nichts anzuhaben scheint, und fragt: „Schwitzen Indianer eigentlich?“

Foto: Jean-Marc Birkholz als Winnetou (Elspe Festival 2019), Christine Hünseler, wikimedia commons, CC-BY-SA

„Rassismus pur“, sagen die einen. Hier werde ein kitschiges und in seinem Kitsch ziemlich dämliches Klischee über die indigenen Völker Amerikas, die sogenannten Indianer gezeichnet. Menschen, die sich nicht wehren können, würden idealisiert, das heißt ihrer Eigenheit enteignet, um uns als Vorbilder, Projektionsflächen unserer Wünsche,  Objekte der Unterhaltung oder der Absolution für geschehenes Unrecht zu dienen – eine Art zweiter Kolonialismus. Und seit der Ravensburger Verlag zwei Jugendbücher zum Film zurückgezogen hat, weil er sich einem empörten Shitstorm ausgesetzt sah, kocht die Diskussion darüber hoch.

Denn: „Hier sind ´mal wieder verknöchert-dogmatische Moralapostel und Sittenwächter zugange, die uns auch noch den letzten Spaß vermiesen wollen“, sagen die anderen. Aus einer harmlosen Mücke werde ein Elefant gemacht, und wenn das so weitergehe, seien wir auf dem Weg in eine Verbotsdiktatur. Ist das tatsächlich so? Oder legen die, die den heftigen Streit vom Zaun brechen, nicht zu Unrecht den Finger in eine Wunde, die wir alle spüren sollten? Worum dreht sich dieser Streit wirklich?

Im Kern geht es um das Thema der kulturellen Aneignung, der sogenannten Appropriation. Und darum, ob es eine „Ethik der Appropriation“ geben und wie diese aussehen kann. Jens Balzer hat ein wunderbares kleines Büchlein darüber geschrieben (Fröhliche Wissenschaft 207, Berlin 2022). Er nimmt unser intuitives Unbehagen ernst, das die meisten von uns verspüren, wenn man, auf die Spitze getrieben, den Kindern nun das Indianerspielen verbieten will. Er bekräftigt zugleich aber auch die mittlerweile zum Glück allgemeine Einsicht, dass es falsch ist, von „Rothäuten“ zu sprechen, die selbst in der größten Hitze nicht schwitzen, beziehungsweise die indigenen Völker Amerikas als die „edlen Wilden“ abzustempeln. Was also tun?

Prozesse kultureller Aneignung, so Balzer, geschehen immer. Sie sind kein Vergehen, im Gegenteil! Lebendige Kulturen sind auf Appropriation angewiesen. Sie kann sogar dazu verhelfen, das Marginalisierte, Unterdrückte, Fremdgewordene in Gegenwart und Zukunft zu retten, Gesellschaften und Kulturen ganz neu zu bereichern. So gesehen, hat Appropriation einen emanzipatorischen Charakter. Wenn sie gelingt! Was aber sind gelungene Prozesse kultureller Aneignung?

Misslungen sind sie, wenn sie einem unkritischen Konsum romantisierender Klischees Vorschub leisten („Indianer schwitzen nicht“), damit die kulturellen und individuellen Eigenheiten anderer abwerten und diese enteignen; gewissermaßen also Selbstbefriedigung auf Kosten anderer. Gelungen sind sie, wenn der zwiespältige Umgang mit Aneignungsprozessen der Vergangenheit gesehen, reflektiert und thematisiert wird – und wenn sich daraus eine neue, andere Wiederaneignung („Gegenappropriation“) ergibt, die Fremdes in das Eigene integriert; so integriert, dass ganz Neues entsteht.

Balzer bietet in seinem Büchlein viele schöne Beispiele für gelungene Appropriation. Die meisten sind den populären und alternativen Kulturen der Postmoderne entnommen: zum Beispiel dem Hip-Hop oder der Drag-Culture. Müssten wir Christenmenschen darüber hinaus nicht aber an den Appropriationsprozess schlechthin denken, der für unseren Glauben konstitutiv ist? Die Aneignung der Tora nämlich und des Glaubens unserer jüdischen Geschwister? Wo ist sie gelungen, wo misslungen? Was lernen wir aus beidem: dem Misslungenen wie dem, was gelungen sein mag? Was können wir aus Geschichten gelungener Appropriation anderswo für unser Verhältnis zum Judentum und zu unseren eigenen jüdischen Wurzeln lernen?

Ich habe noch keine Antworten auf diese Fragen. Aber Theologie und Kirche sollten sie suchen. Zuallererst um ihrer selbst willen. Aber auch, um in den Debatten unserer Zeit auf Augenhöhe zu sein.

Seien Sie behütet! Martin Fricke

Ein Kommentar

  1. Christiane Otte

    Wichtiges Thema! Als Kirche haben wir eine hohe Verantwortung gegenüber der nächsten Generation in unserer pluralen Gesellschaft. Sich mit der kolonialen Vergangenheit und ihren Folgen auseinanderzusetzten, sollte niemals Zeitverschwendung sein. Dadurch sollen weder einer Generation die schönen Kindheitserinnerungen geraubt werden, noch wird plötzlich verlangt, alle Karl May Bücher zu verbrennen. Nutzen wir doch die Chance, einen zeitgemäßen Umgang mit dem Stoff zu fördern, der vor rund 150 (!) Jahren geschrieben wurde, und die Verniedlichung von kolonialer Ausbeutung und Rassismus zu hinterfragen und die Reproduktion von romantisierten, rassistischen Narrativen zu durchbrechen (und dabei grundlegend über die Sinnhaftigkeit von „Indianerfesten“ nachzudenken). Mit den Themen kulturelle Aneignung und Rassismuskritik in der Kirche setzt sich übrigens wunderbar der Podcast „Stachel und Herz“ der VEM auseinander – in der aktuellen Folge: warum eigentlich das I-Wort und Winnetou plötzlich problematisch sind.

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