Die Stimmen mehren sich, dass die Krisen, die wir momentan erleben, nicht mehr Ausnahmen, sondern die Regel sind. Der Soziologe Hartmut Rosa etwa sieht unsere Gesellschaft in einem „rasenden Stillstand“.[1] Er meint damit den Zustand einer richtungslosen, sich stetig steigernden Beschleunigung. Sie bringt zwar unaufhörlich Innovationen hervor, aber sie stellt keinen qualitativen Fortschritt (mehr) dar.[2] Im Gegenteil: Wir sind gezwungen zu wachsen und immer mehr Energie aufzuwenden, um allein den ökonomischen und sozialen status quo zu erhalten. Das Vertrauen jedoch, dass irgendwann einmal alles besser wird, dass wir neue Überlebenschancen und Lebensqualität gewinnen, haben wir verloren. Stattdessen laufen wir wie in einem Hamsterrad der Verteidigung von unseres Wohlstandes hinterher – der Verteidigung des bisschen Welt, dessen wir habhaft geworden sind. Das frustriert, es verunsichert und macht aggressiv. Nie hatten wir so viele Informationen wie heute – aber haben wir uns angesichts aktueller Herausforderungen je so hilflos gefühlt? Selten ging es vielen Menschen in der westlichen Welt materiell so gut wie heute – doch waren wir je ausgebrannter? Medien, die uns miteinander in Kontakt bringen, sind nahezu unbegrenzt – aber hatten wir je mehr „Kommunikation ohne Gemeinschaft“ als in unseren Tagen?[3]
Für Rosa sind die Religionen Räume, in denen wir orientierendes Wissen, lebendige Hoffnung und echte Verständigung zurückgewinnen können. Weil sie uns in einem doppelten Wortsinn das „Aufhören“ lehren: Sie leiten uns an, unser atemloses Hasten im Hamsterrad zu unterbrechen; und sie bewegen uns dazu, auf einander, auf die Welt, in der wir leben, und auf den, der diese Welt in seinen Händen hält, zu hören. In den Vollzügen religiösen Lebens erfahren wir bleibend Wichtiges, erleben Selbstwirksamkeit, werden verwandelt, erkennen, dass wir der Welt und der Menschen nicht habhaft werden können und müssen. In besonderen Momenten mag sogar eine „Gemeinschaft ohne Kommunikation“ entstehen (Byung-Chul Han).
Ich träume von einer Kirche, die in diesem Sinne „aufhört“ – bis dahin, dass ihr das Herumdoktern an theologischen Richtigkeiten, religiösen Konventionen und institutioneller Optimierung abhanden kommt. Ich träume von einer seelsorglichen, diakonischen, bildenden Kirche, die nicht darauf aus ist, Menschen fit zu machen für das accelerando unserer angelernten Lebensweise, sondern in der miteinander das „Aufhören“ geübt wird. Das Unterbrechen ebenso wie das Hören: auf den Ewigen, auf die Anderen, auf die eigene Seele. Und das nicht nur im Advent und zum Weihnachtsfest.
Eine solche Kirche wäre ein Raum wahrer Lebenshilfe in den Krisen unserer Zeit. Und ein wichtiger Impulsgeber für die Gesellschaft, in der wir leben, zudem. Denn wo Ausnahmezustände der Normalfall sind, wird sie mehr gebraucht denn je.
Seien Sie behütet!
[1] Hartmut Rosa, Demokratie braucht Religion. Über ein eigentümliches Resonanzverhältnis, München (2022)
[2] Harald Welzer, Nachruf auf mich selbst. Die Kultur des Aufhörens, Frankfurt a.M. (22021)
[3] Byung-Chul Han, Vom Verschwinden der Rituale. Eine Topologie der Gegenwart, Berlin (52021)