Darf man sich als Christ:in an einem Krieg beteiligen? Die Lehre vom „gerechten Krieg“ versucht ‚gerechte‘ und ‚ungerechte‘ Kriege zu unterscheiden, an den einen darf man sich beteiligen, an den anderen nicht. Doch ist die Lehre vom gerechten Krieg älter als das Christentum. Die wichtigste vorchristliche Quelle, Ciceros „De re publica“, ist praktischerweise unvollständig überliefert, so dass unterschiedlich ausdeutbar ist, was Cicero hätte gemeint haben können, ein weites Feld, das wir lieber den Altphilologen überlassen.
Solange die Christ:innen (in der frühen Christenheit) eine Minderheit waren, erschien es ihnen unter Berufung auf die Bergpredigt völlig ausgeschlossen, sich an der Tötung eines Menschen irgendwie zu beteiligen. Das änderte sich mit der „Konstantinischen Wende“, als die Christen zur Mehrheit im Staat wurden und Regierungsämter übernahmen, die Männer unter ihnen beispielsweise Soldaten oder Richter wurden, und diese neuen Aufgaben von Augustin und anderen auch mit Hilfe der vorchristlichen Lehre vom gerechten Krieg ins Christentum integriert wurden. Etwa um 420 wurde sie zu einer detaillierten kirchlichen Theorie ausgebaut. Um 1140 wurde sie in das Decretum Gratiani aufgenommen und damit Teil des kanonischen Rechts. Deshalb haben sich ihr auch praktisch alle mittelalterlichen Scholastiker (nicht nur Thomas v. Acquin) angeschlossen. Auch die Reformation hat sie nicht angetastet; sowohl das Augsburger Bekenntnis von 1530 als auch Luther und Calvin setzten ihre Gültigkeit voraus. Wenig bekannt: Auch Luther schloss sich ihr in seiner Schrift „Ob Kriegsleute seligen Standes sein können“ an. Zitiert werden meist diejenigen Passagen, in denen Luther es Christen zugestand, Soldaten werden zu können. Weggelassen werden meist diejenigen Passagen, in denen er Präventiv-, Angriffs- und Religionskriege für unzulässig erklärte und dafür die Kriegsdienstverweigerung empfahl (Offensichtlich haben sich die Soldaten, damals bezahlte Söldner, nicht daran gehalten; es wäre ihnen auch schlecht bekommen).
Mindestens ebenso wichtig, wie die Frage, ob ein Krieg überhaupt geführt werden darf („ius ad bellum“), wurde seit dem 16. Jahrhundert die Frage, welche Mittel im Krieg eingesetzt werden dürfen („ius in bellum“). Das „ius in bellum“ gewann als Kriegsvölkerrecht gegenüber dem „ius ad bellum“ an Bedeutung. Insbesondere im Absolutismus und im neunzehnten Jahrhundert glaubten viele Völkerrechtler, ein Angriffskrieg sei schon dann legitim, wenn der Monarch eine Kriegserklärung ordnungsmäß unterzeichnet habe. Ganz wohl dabei war ihnen dabei allerdings nicht, weshalb Angriffskriege sicherheitshalber auch noch damit begründet wurden, dass die jeweils andere Seite angefangen habe.
Die klassische Lehre, wie sie im sechzehnten Jahrhundert entwickelt worden ist, kennt fünf Voraussetzungen, damit ein Krieg überhaupt begonnen werden darf („ius ad bellum“):
- Legitime Autorität („legitima auctoritas“). Nicht jeder Mensch, der sich bedroht fühlt, darf einen Verteidigungskrieg führen (klassisch: keine Selbstjustiz, auch nicht gegen Mörderbanden, modern: international nicht anerkannten Bürgerkriegsparteien sind illegitim). Klassischer Weise überlässt man es der ‚Obrigkeit‘, ihre Untertanen – notfalls mit Gewalt – zu schützen. Die Blutfede, wie sie unter mittelalterlichen Rittern üblich war, sollte mit dem 1495 ausgerufenen „ewigen Reichsfrieden“ ausgeschlossen werden. Dazu musste die ‚Obrigkeit‘ dazu legitimiert werden, gegen Reichsritter, die Angriffskriege vorbereitet hatten, vorzugehen. Das gelang zunächst nur sehr lückenhaft oder auch gar nicht. – In gewisser Hinsicht kann man das mit den Vereinten Nationen heute vergleichen. Als legitim gilt heute vielfach nicht nur die Verteidigung des eigenen Landes, sondern unter gewissen Bedingungen auch internationale Einsätze, „friedenserhaltende“ oder „friedenschaffende“ sog. „Maßnahmen“, out-of-area-„Einsätze“, „Operationen“, „Missionen“ oder welch anderen Begriff man bevorzugt. Die Legitimierung leitet sich von einem „Mandat“ der Vereinten Nationen ab, das vom UNO-Sicherheitsrat stammt (ob ersatzweise, wie im Kosovo-Krieg, auch ein NATO-Mandat herhalten darf, ist ein Nebenproblem).
- Vorliegen eines Kriegsgrundes („iusta causa“). Klassisch kann bei zwei Kriegsgegnern nur eine Seite einen objektiv zutreffenden Kriegsgrund haben, die andere nicht. In der Praxis sind die Situationen oft unübersichtlich; beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges diskutiert die Geschichtsschreibung bis heute, wer eigentlich angefangen hat. Bei fast jedem Kriegsausbruch werfen sich beide Kriegsparteien gegenseitig vor, die jeweils andere Seite habe angefangen. Beide Seiten suchen und finden Völkerrechtler:innen, die ihre eigene Position stützen. Beim Irakkrieg haben westliche Geheimdienste fälschlich verbreitet, Saddam Hussein produziere Massenvernichtungsmittel, worauf die beteiligte westliche Allianz nur reagiert habe (angeblicher Präventivkrieg). Hitler behauptete am 1.9.1939 wahrheitswidrig, Polen habe angefangen („Seit 5:45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen“). Putin erklärt jetzt die ukrainische Regierung zu einer „Bande von Drogenabhängigen und Neonazis, die das gesamte ukrainische Volk als Geisel genommen haben“. In all diesen Fällen fragt es sich, wer darüber entscheidet, was ein legitimer Kriegsgrund ist und was nicht. Wer Lügt und wer sagt die Wahrheit? Als einfache Menschen können wir uns irren; Monarchen, Präsidenten, ‚Führer‘ oder militärische Oberbefehlshaber irren sich allerdings auch. Deshalb finde ich: Als „vernunftbegabte Wesen“ (Kant) dürfen wir alle mitreden.
- Verlangt wird eine gerechte Absicht („recta intentio“) der Kriegführenden. Es ist nicht zulässig, einen Krieg zu führen, um sich fremdes Territorium anzueignen, Reichtümer auszubeuten oder Bodenschätze (aktuell z.B. Öl) in Besitz zu nehmen. Ziel muss die Wiederherstellung des vorherigen Zustandes sein.
- Es muss sich um das letzte Mittel („ultima ratio“) zur Wiederherstellung des Rechtes handeln. Solange andere Mittel nicht ausgeschöpft sind (z.B. Verhandlungen, Wirtschaftssanktionen) darf ein Krieg nicht begonnen werden.
- Es muss die Aussicht auf einen Frieden mit dem Kriegsgegner bestehen („iustus finis“). Dieser Frieden sollte das Ziel sein. Wenn der nicht zumindest angepeilt werden kann, sollte man sich als Angegriffener nicht am Krieg beteiligen (sondern z.B. kapitulieren).
Als „Recht im Krieg“ („ius in bellum“) hat man schon im sechzehnten Jahrhundert zwei Kriterien entwickelt.
- Verhältnismäßigkeit („proportionalitas“) der angewandten Mittel. Ziel ist es nicht, dem Kriegsgegner maximal zu schaden. Gefordert wird vielmehr die verhältnismäßige Reaktion auf die Aggression der anderen Seite. Auf diese Weise sollen Eskalationsspiralen verhindert werden. Die Verteidigung darf nicht kaputt machen, was verteidigt werden soll. Meiner Überzeugung nach genügt insbesondere der Einsatz sog. strategischer Atomwaffen‘ (richtiger: Massenvernichtungsmittel) dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht. Ein Nebenproblem ist die Frage, inwiefern man mit Waffen drohen kann, die man nicht einsetzen will, ein weiteres Nebenproblem ist der Einsatz sog. taktische Atomwaffen, die den Krieg angeblich lokal eingrenzen.
- Unterscheidung zwischen Soldaten und Zivilisten (heute: Diskriminierungsgebot): Gegner ist die kämpfende Truppe, nicht die Zivilisten: Zivilisten sind während der Kampfhandlungen zu schonen (heute: Immunitätsprinzip). Prinzipiell ist diese Unterscheidung bis heute gültig. Gleichwohl erscheint mir die Bereitschaft, die Tötung von Zivilisten als angeblichen Kollateralschaden billigend in Kauf zu nehmen, skandalös groß. Besonders deutlich wird das bei der Entwicklung sog. taktischer Atomwaffen, die ‚Kollateralschäden‘ von vornherein einplanen.
Die Haager Kriegsordnungen haben die aus dem 16. Jahrhundert stammenden Regeln des „ius in bello“ ausgebaut und spezifiziert; neu ist darüber hinaus der Status der Kriegsgefangenen.
Insgesamt finde ich die Lehre vom gerechten Krieg sehr viel besser als ihr Ruf. Sie macht aus der Gewaltlosigkeit kein absolutes Prinzip, rechnet realistischer Weise damit, dass es ganz ohne Gewalt nicht geht, grenzt aber die Gewaltanwendung sehr stark ein. Verheerend ist weniger die Lehre an sich als die desaströse Form, in der sie immer wieder falsch angewandt und zur Kriegsrechtfertigung benutzt wurde. Nach wie vor finde ich: Sie bietet einen Kriterienkatalog, an dem man sich für eine eigene Beurteilung eines jeden Krieges entlanghangeln kann. Man muss nicht jedes Detail übernehmen. Dennoch sollte deutlich werden: Fast alle bisher geführten Kriege genügen diesen Kriterien nicht, sind also, aller gegenteiligen Rhetorik zum Trotz, ungerechte Kriege.
Fast alle: Im Ukraine-Krieg sehe ich eher die Ausnahme als die Regel. Die Ukraine besitzt eine international (sogar von Russland) anerkannte Regierung („legitimas potestas“), die andere Seite hat angefangen („iusta causa“), sie beabsichtigt nicht, russische Territorien zu erobern („recta intentio“), nachdem die russischen Soldaten vorrückten, waren alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft („ultima ratio“), die Wiederherstellung des Zustandes vor Beginn des Krieges ist das erklärte Ziel („iustus finis“). Der Fall ist selten so eindeutig und klar wie hier. Gleichzeitig ist allerdings eine andere Überzeugung vernünftig denkender Menschen möglich, weshalb die Ukraine Männern im wehrfähigen Alter ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung einräume sollte (was bisher nicht der Fall ist).
Sollten russische Zivilisten umgebracht werden oder von ukrainischer Seite unverhältnismäßig schwere Maßnahmen ergriffen werden, sollte das auch von den deutschen Kirchen kritisch angesprochen werden. Doch sind bisher wesentliche Verletzungen des Kriegsvölkerrechtes von ukrainischer Seite nicht bekannt geworden, zumindest mir nicht, aber wahrscheinlich gibt es sie auch nicht oder allenfalls in sehr geringem Ausmaß.
Der in den meisten Kriegen schwierigste Punkt ist die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Mittel. Wenn die Kriegsmaschinerie einmal angelaufen ist, ist sie allen Erfahrungen nach kaum noch zu stoppen und entfaltet ihre Eigendynamik ohne Rücksicht auf Verluste. Ich könnte mir vorstellen, dass dieser Fall auch im Ukraine-Krieg eintritt. Dennoch: Zurzeit (Stand 1.3.2022) ist das nicht der Fall. Die Ukraine verteidigt sich in einem „gerechten Krieg“. Russland hingegen führt einen „ungerechten Krieg“.
„Selig sind, die Frieden stiften, denn sie werden Gottes Kinder heißen“ (Mt.5,9), heißt es in der Bergpredigt. Weil „Frieden stiften“ in der lateinischen Bibelübersetzung „pacem facere“ heißt, werden diejenigen, die aufgrund eines wörtlichen Verständnisses der Bergpredigt für unbedingte Gewaltlosigkeit eintreten, „Pazifisten“ genannt oder beschimpft. Im Mittelalter wurde von Mönchen und Nonnen, auch von katholischen Priestern ein Verzicht auf Selbstverteidigung verlangt (die Aussetzung der Wehrpflicht für katholische Priester und – aus Gründen der Gleichbehandlung – ordinierte evangelische Pfarrer ist ein Reflex darauf). In der Folge der Reformationszeit entstanden eine Reihe Friedenskirchen (Mennoniten, Hutter, Amische, Quäker), eine pazifistische Tradition, die man auch von Seiten des „main-line“-Protestantismus würdigen sollte. Ohne die Infragestellung von Seiten der historischen Friedenskirchen wäre der deutsche (auch der nordamerikanische) Protestantismus noch weitaus militaristischer geworden. Gut, dass es sie gibt. Dennoch, so finde ich, darf man auch aus der Gewaltlosigkeit kein um jeden Fall einzuhaltendes Prinzip machen, das man ohne Rücksicht auf Verluste um jeden Preis einzuhalten hätte. In sehr besonderen und sehr seltenen Situationen kann der Frieden auch wiederhergestellt werden, indem man Krieg führt. Darum bemüht sich zurzeit die Ukraine.
https://de.wikipedia.org/wiki/Gerechter_Krieg
Wolfgang Huber/ Hans-Richard Reuter: Friedensethik. Stuttgart 1990.