„Black lives matter“

Dr. Martin Fricke
Ein Beitrag von Dr. Martin Fricke

„Black lives matter“ hallt es in diesen Wochen über die Plätze und durch die Medien. „Schwarze Leben zählen“ – die Leben aller Menschen zählen! Gegen Rassismus und Diskriminierung die Stimme zu erheben, ist dringlicher denn je. Nicht nur in den USA, auch bei uns! Erst vier Monate ist es her, dass ein wirrer Verschwörungstheoretiker in Hanau ein Blutbad unter türkischen Staatsbürgern und Deutschen mit Migrationshintergrund anrichtete, nicht einmal ein Dreivierteljahr seit dem Anschlag auf die Synagoge in Halle. Und dass fremdenfeindliche und chauvinistische Einstellungen sich mittlerweile in der sogenannten Mitte der Gesellschaft eingenistet haben, ist nicht erst offensichtlich, seitdem die AfD in unseren Parlamenten sitzt.

Was aber hat es mit der „Black lives matter“-Bewegung eigentlich auf sich? – Einige Schlaglichter: Ihre Wurzeln liegen in der Anti-Sklaverei-Bewegung des späten 18. und des frühen 19. Jahrhunderts. 1829 schon schrieb David Walker, ein freier Schwarzer in Boston, An Appeal to the Coloured Citizens of the World, but in Particular, and Very Expressly, to those of the United States of America, in dem er die Sklaverei als einen „Fluch für die Nationen“ bezeichnete und forderte, die USA mögen ihren Verpflichtungen gegenüber Bürgern aller Hautfarben gerecht werden.

1883 weigerte sich die Journalistin, Bürger- und Frauenrechtlerin Isa B. Wells, ihren Platz im „Frauenabteil“ eines Zugs aufzugeben und sich in einem für Schwarze reservierten Abteil niederzulassen. Sie gab ihre eigene Zeitung Free Speech heraus und wurde Mitbegründerin einer der einflussreichsten schwarzen Bürgerrechtsorganisationen der USA.

Auch die moderne amerikanische Bürgerrechtsbewegung des 20. Jahrhunderts begann mit Streiks gegen die Rassentrennung. Am bekanntesten ist wohl der Busboykott von Montgomery, ausgelöst durch die Weigerung der afroamerikanischen Näherin Rosa Louise Parks am 1. Dezember 1955, ihren Sitzplatz im Bus für einen weißen Fahrgast zu freizugeben. Doch schon früher, während des Zweiten Weltkriegs waren afroamerikanische Aktivistinnen auf die Straße gegangen und hatten Sitzblockaden in Restaurants organisiert. Eines ihrer Spruchbänder bezog sich auf schwarze Soldaten: „Wir sterben zusammen, warum können wir nicht zusammen essen?“

Protagonisten des Civil Rights Movements der 1960er wie Malcolm X oder Martin Luther King bezahlten ihren Kampf mit dem Leben. Sie sind unvergessen – zu Recht, denn ihr Traum einer Gesellschaft gleicher, freier Menschen ist bis heute ein Traum geblieben. Um ihn zu beleben, lohnt es, sich an einen bei uns zu Unrecht weniger bekannten Akteur der schwarzen Bürgerrechtsbewegung zu erinnern:

James Arthur Baldwin, geboren am 2. August 1924 in Harlem/New York City, gestorben am 1. Dezember 1987 in Saint-Paul-de-Vence/Provence-Alpes-Cote d’Azur, einen der bedeutendsten amerikanischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.

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Wenn Sie sich mit seinen Gedanken vertraut machen und zugleich bestürzend aktuelle Einsichten zum Alltagsrassismus (auch) unserer Tage gewinnen möchten, lesen sie das gerade frisch neu erschiene Büchlein Nach der Flut („The Fire Next Time“).
Pointiert, persönlich, manchmal auch geradezu poetisch beschreibt Baldwin hier, wie Rassismus funktioniert: Die einen sagen den anderen, wer sie sind; die Zuschreibungen der einen bestimmen von Geburt an das Leben der anderen – als „Nigger“, „Sklave“, „Schwarzer“, „Asylant“, „Ausländer“… Jedes Aufbegehren ist müßig, weil das System der Zuschreibungen immer nur wieder deren Bestätigung erzeugt. Denn neben der Anpassung gibt es für letztere lediglich zwei Wege: den der Gewalt oder den der Flucht in einen Glauben, der in eine jenseitige Gerechtigkeit verliebt ist. Der erste stimuliert die Gewalt der „Weißen“ gegen eben jene „Nigger“, „Asylanten, „Ausländer“; der zweite stabilisiert das Gefüge der Welten, in denen die einen wie die anderen jeweils gefangen sind.

An seine Pubertät erinnert sich Baldwin so: „Ich hatte nicht vor, mir von den Weißen in diesem Land sagen zu lassen, wer ich bin, mich dadurch begrenzen und wegputzen zu lassen. Gleichzeitig wurde ich natürlich bespuckt und definiert und beschrieben und begrenzt und hätte mit einem Streich weggeputzt werden können. Jeder schwarze Junge – zumindest damals in meiner Situation –, erkennt an diesem Punkt sofort, und zwar gründlich, weil er leben will, dass er in großer Gefahr schwebt und blitzschnell `etwas´ finden muss. Einen Kniff, der ihn da rausholt, der ihn voranbringt. Und es ist ganz egal, was für einen Kniff.“

Baldwins „Kniff“ als Jugendlicher war die Kirche. Er wurde Prediger in der Pfingstgemeinde seines Stiefvaters. Bis ihm aufging, dass die dogmatischen Gewissheiten und die enthusiastische Frömmigkeit des Christentums, das ihm begegnete, lediglich eigenen Hass und Selbstverachtung maskierten, indem „sie zwischen sich und die Wirklichkeit ein ganzes Labyrinth von Haltungen“ schoben:
„Die Inbrunst, mit der wir den Herrn liebten, maß, wie tief wir nahezu alle Fremden fürchteten, beargwöhnten und letzten Endes hassten und wie wir uns selbst mieden und verachteten.“
Rassismus vice versa: Fehlende Selbstliebe führt zur Verachtung des anderen.

Baldwins Religionskritik, vor allem seine Kritik am Christentum der „Weißen“, ist radikal, scharfzüngig und provokant. „Weiße Christen haben außerdem einige grundlegende historische Details vergessen. Sie haben vergessen, dass die Religion, die heute mit ihrer Tugend und ihrer Macht gleichgesetzt wird (…), einem Geröllboden im heutigen Nahen Osten entsprungen ist, und zwar vor Erfindung der Hautfarbe, und dass, damit die christliche Kirche entstehen konnte, Christus getötet werden musste, von Rom, dass der wahre Architekt der christlichen Kirche nicht der verrufene, sonnenverbrannte Hebräer war, der ihr seinen Namen gab, sondern der gnadenlos fanatische, selbstgerechte Paulus. Die Lebenskraft, die mit dem Aufstieg der christlichen Nationen begraben wurde, muss in die Welt zurückkehren; nichts wird das verhindern können. Ich glaube, viele von uns sehnen sich danach und haben schreckliche Angst davor, denn diese Verwandlung birgt zwar die Hoffnung auf Befreiung, verlangt aber auch nach großer Veränderung. Um der schlummernden ungenutzten Kraft der ehemals Unterjochten zu begegnen, um mit Menschlichkeit und moralischem Gewicht und Einfluss in der Welt zu überleben, sind Amerika und alle westlichen Nationen aber gezwungen, sich selbst zu überprüfen und sich von so vielen Dingen zu befreien, die noch immer als heilig gelten, und praktisch alle Annahmen über Bord zu werfen, die dazu dienten, über so lange Zeit ihr Leben, ihre Qual und ihre Verbrechen zu rechtfertigen.“

Ein Plädoyer nicht nur für ein ehrliches Christentum, sondern überhaupt für ein ehrliches Leben also. Baldwin selbst hat es als Schriftsteller gefunden – in einer Rolle, die für einem Afroamerikaner aus dem Ghetto von Harlem eigentlich nicht vorgesehen war. Aber zu schreiben ist für ihn der „Kniff“ geworden, dem Rassismus alltäglicher Zuschreibungen zu entkommen. Und durch die anderen, für die er schrieb, – auch die „Weißen“! – sich selbst zu lieben. „Wir können erst frei sein, wenn sie frei sind“, beendet er einen Brief an seinen Neffen James. „Gott segne Dich, James, und alles Gute auf Deinem Weg. Dein Onkel James.“

„Black lives matter“ – die Leben aller Menschen zählen!
Seien Sie behütet!

Dr. Martin Fricke
Pfarrer, Leiter der Abteilung Bildung im Evangelischen Kirchenkreis Düsseldorf

Hinweis: Die Zitate im Text sind den genannten Quelle entnommen.


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