Der achthundertste Todestag Dante Alighieris im September 2021 hat die Frage nach muslimischen Einflüssen auf sein Hauptwerk „Göttlichen Komödie“ noch einmal aufleben lassen.
Die Debatte ist jetzt auch schon hundert Jahre alt ist. Sie wurde 1919, kurz nach dem Ersten Weltkrieg, durch den spanischen römisch-katholische Priester und Miguel Asin Palacio, Experte für die muslimisch-christlichen Schnittstellen des Mittelalters, eröffnet: In einem Buch über die muslimische Eschatologie in der „Göttlichen Komödie“ behauptete er, dass Dante eine arabisch in vielen Varianten überlieferte Erzählung über den al-miraj (Leiter, Aufstieg, Himmelsreise) des Propheten gekannt und Elemente davon in der „Göttlichen Komödie“ aufgegriffen habe. Damals erschien die These kühn, weil eigentlich alle Zwischenglieder fehlten. Dante konnte kein arabisch. Die Schrift, die Dante angeblich oder tatsächlich gekannt haben sollte, der Kitāb al-miraj („Buch des Aufstiegs“) ist in sehr unterschiedlichen Varianten überliefert, einige davon nüchtern sachlich, andere in vielen Details ausgeschmückt und überladen. Unter den Safawiden und Osmanen gehörte die „Himmelfahrt Mohammeds“ zu den am häufigsten gemalten Prophetengeschichten, war also auch aus Bildern allgemein bekannt. Dennoch gab es unzählige Varianten. Die Vorstellung einer Stufung des Himmels und der Hölle in verschiedenen Stockwerken entstammt der Volkskultur; im Buddhismus tauchte sie schon vor Entstehung des Islams auf, so dass heute oft ein indischer Einfluss angenommen wird, den man sich durch im achten Jahrhundert in Bagdad entstandene Übersetzungen ins Arabische erklärt. Die Visionen des Ibn Arabi, eines aus Südspanien stammenden Sufi-Mystikers entnehmen dem Al-miraj viele Elemente, die bereits stark an Dante anklingen, infernalische Regionen, astronomische Himmel und eine Frau, die den Visionär in die verschiedenen Sphären führt, bei Ibn-Arabi heißt sie Nizzam, bei Dante Beatrice.
Einerseits stechen die Parallelen ins Auge. Anderseits, könnten sie auch auf Zufall beruhen oder irgendwie anders erklärt werden. Ein großer Teil der Romanisten verehrte Dante so sehr, dass es ihnen ausgeschlossen erschien, der genialische Dichter könne irgendwo abgekupfert haben: „Meine lieben Freunde Arabisten“, erklärte der große italienische Danteforscher Bruno Nardi 1955; „glaubt ihr denn im Ernst, daß Dante, bei seinem religiösen Sinn für Leben und Kunst, sich von diesem Zeug genährt hätte, vorausgesetzt, daß er es gekannt hätte?“ Offensichtlich sorgte Nardi sich, Dante würde enthront, wenn dessen Hauptwerk von diesem orientalischen Zeugs beeinflusst gewesen wäre.
Bis heute regt sich niemand darüber auf, dass Goethe sich das Motiv des „Faust“ nicht selbst ausdachte, sondern aus mittelalterlichen Legenden entwickelte und der Stoff schon vor ihm von zahlreichen Schriftstellern bearbeitet worden war. Ganze Doktorarbeiten widmen sich der Frage, warum Goethe es so machte und nicht anders. Da wundert man sich schon, dass die Rezeptionsgeschichte bei Dante anders verlief, jedenfalls sofern Dante nicht die römische Antike, sondern auch orientalische Vorbilder bearbeitet haben könnte. Heute ist erwiesen, dass Dante „dieses Zeugs“ gekannt haben könnte. Der Kitāb al-miraj (‹Buch der Leiter›) ist in einer verlorenen Version Mitte des dreizehnten Jahrhunderts in Spanien nicht nur ins kastilische und altfranzösische, sondern auch ins Lateinische übersetzt worden als liber scalae Mahometi. Dantes Lehrer Brunetto Latini lernte den Übersetzer 1259/1260 in Toledo am Hofe Könige Alfons X. kennen. Damit ist nicht bewiesen, dass Latini ein Exemplar nach Florenz mitbrachte und Dante es las. Bewiesen ist aber die Möglichkeit. Und sie ist nicht einmal völlig unwahrscheinlich.
Heute gehen die meisten Arabisten davon aus, dass Dante das „liber scalae Mahometi“ kannte. Diejenigen, die es anders sehen, sind sehr oft die Romanisten. Eindeutig entschieden ist es nicht. In der Reklamausgabe zur Neuübersetzung durch Hartmut Köhler (2010) heißt es, dass die Forschung bisher „keiner Einigung“ in der Frage erzielen konnte, ob Dante islamische Jenseitsvorstellungen kannte. Die Befürworter hätten allerdings einen „schlechteren Stand“, weil sie nicht plausibel machen könnten, warum Dante Mohammed als Häretiker in die schlimmste Hölle gesteckt hat.
Ich finde, Köhler lässt sich noch nicht wirklich auf die Argumente der anderen Seite ein. Auch wenn Dante das „liber Scalae Mahometi“ rezipiert haben sollte, kann er – mit den christlichen Theologen seiner Zeit – Mohammed immer noch als „Häretiker“ angesehen haben. Hätte er ihn gemeinsam mit Thomas v. Aquin, Bonaventura, Petrus und Johannes in den Himmel stecken sollen? So viel Toleranz im modernen Sinne brachte Dante als Kinder seiner Zeit nicht auf. Dantes Jenseits-Vorstellungen sind nicht die Unseren.
Für mich ist vorstellbar, dass Dante das „liber Scalae Mahometi“ kannte, sich dadurch inspirieren ließ und den vorhanden Stoff auf eigene Art verarbeitete. Ich bin fachfremd und verstehe zu wenig davon, um mir ein Urteil zu erlauben. Als peinlich empfinde ich aber die Abwehr gegen die bloße Möglichkeit, es könnte so gewesen sein.