Das Heilige – Wir wissen nicht, was es ist, aber die Seele sehnt sich danach

von Dr. Gabriela Köster

Ein großes Thema, sicher mehrere Nummern zu groß, um in einem Blogbeitrag verhandelt zu werden. Aber: Hier sitze ich und kann nicht anders. Das Heilige gibt es und es hat etwas mit Faszination zu tun. Es verleiht unserem Alltag eine Art Zauber und Tiefe. Wie gern wären die Menschen – auch die Nichtreligiösen – am Heiligen Abend zum Gottesdienst gegangen, um dort etwas vom Glanz der Heiligen Familie zu erleben. Wie haben die Menschen getrauert um Diego Maradona, der zumindest in Argentinien wie ein Heiliger verehrt wird. Es scheint, dass wir Menschen zuweilen einen Kontakt mit dem Heiligen brauchen, um zu erkennen: dass das, was ist, nicht alles ist.

Meine These dazu lautet: Wir wissen nicht, was das Heilige ist, aber die Seele sehnt sich danach. Das Heilige kann man nicht definieren oder dingfest machen; wir können uns also nur von verschiedenen Seiten annähern.
Vielleicht haben Sie Lust, bevor Sie weiterlesen, sich einen Zettel zu nehmen und aufzuschreiben: Was ist das Heilige für Sie persönlich? Ist Ihnen schon einmal etwas Heiliges begegnet? Am besten, Sie halten Ihren allerersten Gedanken fest. Würden Sie das Wort überhaupt benutzen? Ist heilig eigentlich ein Adjektiv oder auch ein Substantiv? Kennen Sie heilige Orte? Heilige Zeiten? Heilige Personen? Heilige Handlungen?
Meine Erfahrung ist: Über das Heilige muss man ins Gespräch kommen. In unserer Kirche gibt es keine Definitionsmacht, die sagen könnte: Das und das ist das Heilige und alles andere gehört nicht dazu. Darum ist meine These, der Sie in den Kommentaren gerne auch widersprechen können: Das Heilige ist ein kommunikativer Begriff.

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1. Der Begriff

Im Deutschen ist der Begriff heilig von Heil, Heilung abgeleitet: heila, heilu bedeuten im Germanischen so viel wie das Unversehrte und Vollständige. Sprachlich ist es eine Art Eigentumsbegriff: heilig ist, was einer Gottheit geweiht ist und damit ihr gehört.
Auf Hebräisch heißt heilig kadosch: Heilig ist das, was von Gott ausgesondert ist. Oder für Gott ausgesondert ist.

2. Heilige Stellen in der Bibel

Im Alten Testament ist hauptsächlich Gott selbst heilig. Alles, was sich in seinem unmittelbaren Umfeld befindet, muss deshalb ebenfalls heilig sein. In seiner Heiligkeit ist Gott unvergleichbar und unnahbar; der Bereich um Gott herum ist eine von seiner Heiligkeit ausgefüllte Sphäre. Das Volk soll sich also gefälligst gut benehmen. Damit sind wir schon bei der Ethik. In Leviticus 19,2 heißt es „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der Herr euer Gott.“ Es gibt im Buch Levitikus so etwas, das bei den Theologen „Heiligkeitsgesetz“ heißt (Kapitel 17-26) und in diesen Kapiteln geht es die ganze Zeit darum, wie die Heiligkeit Gottes und die Heiligkeit des Volkes Israel miteinander in Beziehung stehen und wie das Volk sich um die eigene Heiligkeit bemühen soll.
Aber auch schon im Alten Testament gibt es gewisse Unterschiede in der Auffassung der Heiligkeit: Im Buch Deuteronomium (Kapitel 7 Vers 7und 8) heißt es: „Der Herr hat euch NICHT erwählt, weil ihr größer wäret als alle Völker – denn du bist das kleinste unter allen Völkern-, sondern weil er euch geliebt hat.“ Das kommt unserer Auffassung von der Rechtfertigung doch sehr nahe.

Theologisch gesprochen: Die Rechtfertigung geht jeder Heiligung voraus. In normaler Sprache ausgedrückt: Wir müssen und können nicht aus eigener Kraft und Selbstoptimierung annehmbar werden für Gott, sondern: weil er uns liebt, sind wir annehmbar. Zuerst werden wir angenommen und dann hofft Gott darauf, dass wir uns als annehmbar erweisen und benehmen. Martin Luther kann sogar sagen: „Gott liebt uns schön“

Wir Christenmenschen gehören bekanntermaßen nicht zum Volk Israel. Aber wir sind durch Zugehörigkeit zu Jesus Christus nachträglich mit in den ungekündigten Bund aufgenommen worden. Das mit neuen, erweiterten Bund bekommen wir immer mal wieder gesagt, wenn wir die Einsetzungsworte beim Abendmahl hören.

Alle Religionen kennen so etwas wie das Heilige; die einen mehr, die anderen weniger. Wir Evangelischen sind grundsätzlich super kritischer dem Heiligen gegenüber. Denn es müffelt manchmal nach Magie. Und es hat immer mit einer Machtsphäre zu tun. Und wo Macht ist, lugt die Gefahr des Machtmissbrauchs schon um die Ecke. Für die Sakralisierung von unten nach oben habe ich hier nicht genug Platz (Dazu verweise ich auf das Buch von Hans Joas: Die Macht des Heiligen). Protestant*innen haben hier ein eingebautes Frühwarnsystem, spätestens seit den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts.
Das Heilige ist also eine ambivalente Sache: Es löst Faszination und Erschütterung (Rudolf Otto) aus – und wie dem auch sei: Es berührt den Menschen in der Tiefe und lässt ihn verändert zurück. Und: Die Heiligkeit Gottes färbt auf Menschen ab.

Erinnern Sie sich eigentlich an Mose, diesen Mann mit dem schlechten Orientierungssinn? Wie er von seinen Besprechungen mit Gott zurückkam und einen undefinierbaren Glanz im Gesicht hatte? Er hatte regelmäßig Verabredungen mit Gott im Stiftszelt und danach glänzte sein Gesicht so sehr, dass er es mit einer Decke verhüllt hat, bis er zur nächsten Verabredung mit Gott ging (Exodus 34,29-35).
Aber dass Gottes Heiligkeit auf Menschen abfärbt, das ging nicht nur Mose so. Sondern es wird mit der Metapher von der Gottebenbildlichkeit aller Menschen ausgedrückt. So gerade noch auf der allerersten Seite in der Bibel (Genesis 1, 27) steht: „Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde; zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau.“ Wenn Gott also heilig ist, sind die Menschen auch heilig, weil geschaffen nach dem Bilde Gottes. Dass Männer und Frauen exakt gleich heilig sind, ist dabei als selbstverständlich vorausgesetzt und gilt auch für alle Geschlechter, die es dazwischen noch geben mag.
Und eben für alle Menschen, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit – qua Schöpfung und nicht qua Bekenntnis. Aber auch hier ist Heiligkeit ein Kommunikationsgeschehen. Wo ein Mensch nur um sich selbst kreist und an keiner Stelle seines Lebens offen ist für das Unverfügbare, da findet das Heilige kein Einfallstor und die Seele verdurstet. Wo auch immer das Unverfügbare uns begegnet, ob in Gott oder in anderen Menschen oder auch in der Erhabenheit der Natur: im Zwischen, in der Kommunikation selbst ereignet sich das Heilige.
Das Heilige braucht ein bisschen Zeit und auch einen Ort, ist aber im Grunde ziemlich flexibel. Man könnte auch sagen unberechenbar.

Noch mal zurück zur Bibel: Schon auf Seite 2 kommt das Wort „heilig“ (kadosch) zum ersten Mal vor: Genesis 2, Vers 3: „Und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn, weil er an ihm ruhte von allen seinen Werken.“
Demnach gibt es also auch heilige Zeiten im Sinne von kadosch: ausgesondert für Gott. Das ist für Jüdinnen und Juden der Sabbath, den sie um einiges stärker aus der normalen, profanen Zeit herausheben als wir unseren Sonntag. Das sind aber auch die Feste: Ostern, Weihnachten, Pfingsten, Christi Himmelfahrt. Christi Himmelfahrt heißt bei der Berliner Bevölkerung „Herrentag“ und nur die Kerngemeinde bringt das in Verbindung mit dem Herrn Jesus Christus. Insofern habe ich hier schon eine stark absteigende Heiligkeit in der Aufzählung. Und indirekt auch die Frage, wie es sich mit der vor Gott kommenden Heiligkeit und der Menschengemachten Heiligung oder Bewahrung des Heiligen verhält. Auch diesen Aspekt des Heiligen kann man nur im Gespräch erörtern.

Neben den heiligen Zeiten gibt es in der Bibel auch heilige Orte. Den ersten gibt es schon im Buch Genesis Kapitel 28, wo Jakob die Himmelsleiter schaut und es heißt: „Und er fürchtete sich und sprach: Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels.“ Jakob baut dann aus einem Stein und einem Schuss Öl den ersten Altar. Der zweite heilige Ort wird nicht von einem Menschen so benannt, sondern laut Exodus 3, Vers 5 von Gott selbst. Gott sitzt im brennenden Dornbusch und ruft Mose zu sich: „Tritt herzu, zieh deine Schuhe von deinen Füßen; denn der Ort, darauf du stehts, ist heiliges Land!“
Heilige Orte sind solche, an denen Gott sich offenbart. Oder Orte, an denen etwas über uns hereinbricht, was wir nicht steuern und nicht beherrschen können. Der Moment, in dem etwas Heiliges über uns hereinbricht, ist der Moment, in dem wir erkennen, wer wir sind.

3. Heilige Sachen

Gibt es heilige Sachen? Ich sage mit Martin Luther: Nein! Sachen wie z.B. Gebäude kann man widmen, eventuell auch segnen, wobei ich das bei Schusswaffen und Panzern nicht tun würde. Aber heiligen kann man Sachen nach protestantischer Auffassung überhaupt gar nicht. Und trotzdem kann man Erinnerungsstücke an einen verstorbenen Menschen oder an die eigenen Kindern als sie noch ganz klein waren, oder ein Erinnerungsstück an den schönsten Moment im ganzen Leben aufbewahren und außen auf die Kiste draufschreiben: „Heiligtümer“. Aber das ist dann zu 99 Prozent mit einem Augenzwinkern gemeint und fällt nicht unter den Begriff des Heiligen im theologischen Sinne.

4. Heilige Menschen

Gibt es heilige Menschen? Und wenn ja: Brauchen diese eine Heiligsprechungsurkunde von der Präfektur des Vatikans, damit wir ihre Heiligkeit erkennen?

Meine persönlichen Lieblingsheiligen heißen Antonius von Padua, Copertino und Dietrich Bonhoeffer.

Antonius von Padua war der Schutzheilige meines Vaters, der noch öfter Hilfe beim Sachensuchen brauchte als ich. Als ich mit der Stadtakademie vor einigen Jahren in Venedig war und von dort aus in Padua, habe ich Geld in seinen Opferstock geworfen, aus Familientradition. Traditionen werden von manchen Menschen für sakrosant gehalten, sind es aber nicht wirklich.

Der Heilige Copertino ist ein unwiderstehlich vielseitiger Heiliger. Über ihn werde ich ein andermal an dieser Stelle schreiben.

Dietrich Bonhoeffer: Ihn sehen die allermeisten Christen als Heiligen an, obwohl er mangels katholischer Taufurkunde und Wundernachweis kein entsprechendes Zeugnis aus Rom bekommen hat.

Eine Definition, die ich bei der Vorbereitung gehört habe, lautet: „Heilige sind Leute, in deren Gegenwart es leichter fällt, zu glauben.“ Das war bei Bonhoeffer für viele Menschen der Fall. Und er ist als Märtyrer gestorben. Nicht direkt für sein Glaubenszeugnis, aber für seine politische Haltung, die zum Teil aus seinem Glauben gespeist wurde. Dietrich Bonhoeffer – ob man ihn einen Heiligen nennt oder nicht –wird von Christenmenschen aller Konfessionen verehrt. Heilige Menschen leben in besonderer Gottesnähe. Im neuen Testament, in der frühen Kirche und in Bonhoeffers Doktorarbeit (Sanctorum Communio) ist von der „comminio sanctorum“ die Rede: der Gemeinschaft der Heiligen.
Das sind die, die über ihren Glauben, über den Willen Gottes und die Liebe Jesu Christ ins Gespräch kommen. Sei es im privaten Gebet, in Gottesdiensten und auch an Orten, die ganz profan aussehen. Da wo Menschen etwas für andere Menschen (oder andere Lebewesen) tun, da kann sich etwas Heiliges ereignen. Was täte es nützen, wenn wir Gottes Willen nur kennten, aber keine Verantwortung übernehmen würden?

5. Verantwortung dem Heiligen gegenüber

Ich finde es gut, dass in der Präambel unseres Grundgesetzes von unserer „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ die Rede ist. Das gilt für alle, die hier leben, egal welcher Konfession oder auch ganz ohne Konfession. Und dafür können wir im wörtlichen Sinne haftbar gemacht werden. Unsere Verfassung erkennt an, dass wir die Grundlagen unseres Lebens nicht selbst geschaffen haben. Hinter der Wirklichkeit unseres natürlichen Lebens gibt es immer noch eine zweite, nicht menschengemachte Wirklichkeit: die Wirklichkeit des Heiligen. Man kann auch sagen des göttlichen Heiligen Geistes, der uns Menschen zu erreichen sucht. Und wir Menschen stehen zu diesem lebensspendenden Geist in Beziehung, in Kommunikation. Insofern steckt Gott als Heiliger Geist in jedem Menschen, und sei es nur als große Sehnsucht.

8 Kommentare

  1. Liebe Frau Köster,
    Danke für diesen lebendigen, spannenden Vortrag, der bei mir Nachdenken
    bewirkte, mit immer weiteren Kreisen und Bezügen! Ja, das Heilige ist ein
    kommunikativer Begriff…und darüber „leibhaftig“ ins Gespräch zu kommen…
    spannend!….Ob mir etwas Heiliges begegnete…ich kann es nicht sagen…aber ich
    denke an zwei Menschen, denen das Heilige zufiel ( Zu-Fall ) und es nicht
    „wahr“ genommen wurde.
    Vielleicht ein Seminar mit diesem Thema?

    • Gabriela Köster

      Liebe Frau Lachmann, danke für Ihren Kommentar. Es wird ein Seminar zum Heiligen geben, sobald die Pandemie nur noch ein Randthema sein wird. Also hoffentlich in einem Jahr ab heute.
      Ich freue mich darauf, dann auf eine noch viel intensivere Weise ins Gespräch mit den Seminarteilnehmer*innen zu kommen.
      Herzliche Grüße Gabriela Köster

  2. Waltraud Schlag

    Liebe Frau Köster,
    vielen Dank für den sehr guten Vortrag.
    Dazu ist mir ist ein Gedanke gekommen. Ich empfinde die Segnung als heilige Handlung und gleichzeitig als heilende Handlung. Gibt es eine Verbindung zwischen heil und heilig?
    Danke für die Anregung.

    • Gabriela Köster

      Liebe Frau Schlag, vielen Dank für Ihren Kommentar. Ja, der Zusammenhang von heil und heilig hat mehrere Dimensionen. Lassen Sie uns gerne darüber telefonieren. Meine Tel- Nr. 021195757748. Ich würde mich sehr freuen. Wenn Sie mich nicht gleich erreichen, bitte auf AB sprechen; ich rufe zurück.
      Herzliche Grüße Gabriela Köster

  3. Winfried Heidemann

    „Heilige Menschen“: In den Grußformeln seiner Briefe (2. Korinther, Philipper, Hebräer) grüßt Paulus (bzw. sein Autor) von allen Heiligen (auch aus dem Hause des römischen Kaisers!) und lässt alle heiligen Geschwister in den Gemeinden grüßen. Das zeigt: Paulus ging es nicht um schaurige Gefühle des Geheimnisvollen, Erhabenen oder Mystischen, sondern um glaubende Menschen, die dadurch zu Gott gehören. Wir Christenmenschen sind also Heilige und brauchen dafür keine Wunderwirkungen und keine bürokratischen Verfahren der Selig- und Heiligsprechung. In dem Sinne grüße ich die heilige Schwester Gabriela Köster und alle andere Heiligen in der Stadtakademie! 😉

    • Gabriela Köster

      Lieber heiliger Herr Heide mann, vielen Dank für Ihre besonderen Grüße und den Hinweis auf Paulus, der natürlich stimmt und im Blogbeitrag/Vortrag verkürzt nur zusammenfassend angesprochen wurde: communio sanctorum. 2022 liefere ich im Seminar
      so viel Heiliges nach, wie nur geht, im präsentischen Gespräch mit allen, die dabei sind.
      Weil ja das Heilige selbst eine kommunikative Dimension ist. Herzliche Grüße Gabriela Köster

  4. Ingrid Philipps

    Liebe Frau Dr Köster,
    wir Christen sprechen vom Heiligen, die psychologische Wissenschaft von Ehrfurcht und des Gerührtseins.
    Die amerikanischen Psychologen Jonathan Haidt und Dacher Keltner haben einen Definitionsversuch gemacht.
    Ehrfurcht ist gekennzeichnet durch die Begegnung mit Unermesslichem und Unbegreiflichem.
    So könnte man auch unser Wissen zum Heiligen bezeichnen.
    Ich freue mich schon jetzt auf den nächsten Himmelsleiter Beitrag
    Ingrid Philipps

    • Gabriela Köster

      Liebe Frau Philipps, vielen Dank für Ihren Hinweis auf die Amerikaner hier im Block und den „Funken“ beim Vortrag. Ich werde beides in mein Seminar zum Heiligen im 1. Halbjahr 2022 einbauen. Auf den Dialog mit den Teilnehmer*innen freue ich mich jetzt schon. Eine allein kann ja niemals genug vom Heiligen wissen.
      Herzliche Grüße Gabriela Köster

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