
Meine Gesprächspartnerin, Dr. Ilka Werner, stammt aus Radevormwald, hat in Wuppertal, Tübingen und Bonn Theologie und Philosophie studiert, und in Wuppertal über Calvin und Schleiermacher promoviert. Seit 2013 ist sie Superintendentin in Solingen. Lose kenne ich sie seit knapp zwanzig Jahren, näher seit ca. fünfzehn.
UG: Guten Tag, IIka.
Ilka Werner: Guten Tag, Uwe.
UG: Am 18. August waren meine Frau Christine und ich in Solingen-Dorp bei einem dieser schönen Gottesdienste, die wir uns gelegentlich gönnen, obwohl es eigentlich von uns zu Hause sehr weit weg ist. Abgekündigt wurde ein Stadtjubiläum 650 Jahre Solingen unter dem Titel „Festival der Vielfalt“; du würdest am kommenden Sonntag den Festgottesdienst in der Stadtkirche halten. Ich habe mich gefreut, Deinen Namen zu hören, auch wenn es im Prinzip nichts Besonderes ist, wenn die Superintendentin beim Stadtjubiläum den Festgottesdienst hält und mich das Ganze sowieso nichts anging, zumal wir in den Urlaub fahren würden. Doch das Jubiläumsfest fiel aus. Schon am Freitagabend kam es auf dem Fronhof, dem ältesten Solinger Platz, direkt neben der Stadtkirche gelegen zu einem Messerattentat mit drei Toten und acht zum Teil lebensgefährlich verletzten. Warst Du mit Deiner Predigt für Sonntag früh schon fertig? Wie hast Du davon erfahren und was hast Du gemacht?
Das sind schon zwei Fragen in einer: Was die Predigt angeht: Ja, der Festgottesdienst war im ökumenischen Team gemeinsam vorbereitet worden und mein Beitrag, die Predigt, war fertig. Wie ich von der Terrorattacke erfahren habe: Ich war an dem Freitagabend auf dem Fest, auf einem anderen Platz, dem Neumarkt, bin aber früh wieder nach Hause gefahren. Über eine Freundin erfuhr ich über telegram von einer Messerstecherei, dann kam auch schon die telefonische Anfrage der Notfallseelsorgekoordinatorin, ob ich in die Stadt kommen könnte, und auch, ob ich so viele Kolleg:innen wie möglich informieren könnte. Die Situation war zuerst ziemlich unübersichtlich. Ich bin dann wieder in die Stadt gefahren, viele andere Notfallseelsorger:innen auch.
UG: War denn der Markt nicht abgesperrt? Kamst Du überhaupt hinein in die Stadtkirche?
Ja, der Tatort war großräumig abgesperrt. In der Nacht waren wir nicht in der Kirche, sondern in der Gläsernen Werkstatt, einem umgebauten alten Kaufhaus. Das war über einen zweiten Eingang von der Hauptstraße auch zugänglich. Und ich kam durch, weil ich mit der Weste der Notfallseelsorge als Einsatzkraft erkennbar war.
UG: Wie viele Notfallseelsorger:innen gibt es in Solingen, und wie viele waren an diesem Freitagabend erreichbar?
Es gibt etwas 50 Notfallseelsorger:innen in Solingen, ziemlich genau zur Hälfte Pfarrpersonen und Ehrenamtliche. In dieser Nacht waren etwa 15 vor Ort.
UG: Wann bist Du ins Bett gekommen? Und wann musstest Du wieder aufstehen?
Der Einsatz ging bis kurz nach 2 Uhr früh – wir haben uns vor allem um Zeug:innen des Geschehens gekümmert, die später von den Polizeibeamt:innen befragt wurden. Die Verletzten waren in die umliegenden Krankenhäuser gebracht worden. Gleichzeitig haben wir unsere eigenen Familien und Freund:innen beruhigt, die übers Handy anfragten, ob wir o.k. waren. Wir waren gleichzeitig Helfer:innen und als Solinger:innen Betroffene.
Noch in der Nacht haben wir verabredet, am nächsten Morgen die Stadtkirche zu öffnen, und die Notfallseelsorger:innen, die einen Infostand auf dem Fest betreut hätten, stattdessen als Gesprächspartner:innen in die Kirche gebeten. Außerdem haben wir mit dem Oberbürgermeister, der nachts auch vor Ort war, verabredet, noch am Samstag eine öffentliche Trauerfeier anzubieten.
Ich war so um 4 Uhr morgens im Bett, für 8 Uhr habe ich den Wecker gestellt, um so gegen 10 Uhr in die Kirche zu fahren. Eine kurze Nacht. Aber ich konnte schlafen.
UG: Am Sonnabend früh, fünf Uhr, fuhren meine Frau und ich in den Urlaub nach Polen. Unterwegs hörten wir im Autoradio ein Interview mit Dir, ich glaube im Deutschlandradio. Es war auch im Radio eine aufgeregte Stimmung. In Brandenburg, Thüringen und Sachsen standen die Landtagswahlen an, die AfD meldete sich zu Wort, aber auch alle möglichen anderen Politikerinnen und Politiker auf Bundes- und Landesebene äußerten sich oder reisten an. Du warst schon vor Ort, sicherlich nicht die einzige, denn die Kommunalpolitik, die Stadtverwaltung, diejenigen, die eigentlich das Fest organisieren sollten und die Polizei auch. Wie viele Interviews musstest Du geben? Und wie viele Trauernde wollten Dich sprechen? Und wie gewichtet man, wenn man fünf Dinge gleichzeitig machen sollte, aber immer nur eins zur Zeit kann?
Zusammen mit Notfallseelsorger:innen und dem ehrenamtlichen Team der Stadtkirche waren wir den ganzen Samstag in der Kirche, um für die, die kamen, da zu sein. Der Kirchraum wurde zum ‚safe space‘, in dem nicht fotografiert oder gefilmt werden durfte, und durchgehend waren Menschen da, um zu trauern, zu weinen, zu reden, oder einfach nicht allein zu sein. Drinnen war Stille. Draußen im Café-Bereich der Kirche wurden die Trauerfeier und der Trauergottesdienst besprochen.
Ich weiß nicht, mit wie vielen Medienleuten ich gesprochen habe. Es waren sehr viele da. Ohne dass wir uns groß abgesprochen hätten, habe ich die Interviews übernommen und die anderen Notfallseelsorgerinnen die Trauernden und Fragenden. An dem Tag haben wir alle einfach funktioniert, und die vielen lila Westen und T-Shirts gaben die Kraft dazu.
UG: In einer Stadt wie Solingen gibt es eine größere Zahl von Menschen, die jemanden von den Opfern kennen, teils näher, teils weniger nahe. Kanntest Du jemanden und hast Du mit Menschen gesprochen, die unmittelbar betroffen waren?
Ja, aber das kam etwas später, ab Sonntag. Da kamen Menschen, die sagten: Ich kannte die. Oder: Das war ein Freund meiner Nachbarn. Und es kamen Menschen, die erzählten: Ich war auch vor der Bühne, und dann wollte mein Freund ein Bier und wir sind ein Stück weg – sonst hätte es mich getroffen.
UG: Und dann gibt es diejenigen, die zwar keines der Opfer kannten, aber den Tatort, den zentralen Solinger Platz, an dem jede:r schon war. Die sagen sich jetzt: „das Messer hätte auch in meinem Hals landen können…“ Warum andere, warum nicht ich?
Genau. Das war die Frage, die in den ersten Tagen, in der ersten Woche ganz viele bewegte. Viele konnten den Platz nicht betreten. Viele sind bis heute befangen. Auf den ersten Schock folgten die Fragen. Da war es gut, dass die Kirche offen war und man hin konnte. Es tat gut, zu spüren, dass niemand mit den Fragen und der Hilflosigkeit allein bleiben musste. Auch andere Kirchen in der Stadt waren offen zum Gebet, um eine Kerze anzuzünden oder mit jemandem zu reden. Und in den Schulen und Kitas und wo sonst die Leute zusammenkommen gab es Gesprächsangebote und Trauerrituale.
UG: Was machten die Kirchenleute aus Deinem Umfeld am Sonnabend? Wie ich hörte, sollte die Notfallseelsorge einen Stand auf dem Festival der Vielfalt betreiben, und ein Chor sollte im Festgottesdienst singen.
Die meisten kamen in der Stadtkirche vorbei. Fast alle hätten auf die eine oder andere Weise auf dem Fest zu tun gehabt und hatten darum an dem Samstag Zeit. Das hat wirklich getragen. Zum Festgottesdienst sollten zwei Chöre singen, einer katholisch, einer evangelisch – das Programm wurde bis auf ein Lied – Prayer for the city – komplett umgestellt im Laufe des Samstag. Eine Chorsängerin erzählte mir später: Als ich am Sonntag um 9 in die Kirche kam, kannte ich nur eins der Lieder, die wir singen würden.
UG: Und Deine Predigt für Sonntag früh?
Tja. Was ich hatte, war eine Festpredigt. Am Samstag Abend bin ich gegen 20 Uhr nach Hause gefahren, hab mir die Tagesschau angesehen und mich dann an den Schreibtisch gesetzt. Als ich ins Bett ging, hatte ich eine Predigt, die wäre o.k. gewesen. Am Sonntagmorgen habe ich mich noch mal drangesetzt, und da wurde es gut. Der richtige Ton fiel mir unter der Dusche ein – sprichwörtlich, aber so ist es ja wirklich manchmal.
UG: Sonnabend abends gab es dann ein stilles Gedenken am Neumarkt. Wieso eigentlich auf dem Neumarkt? War der Fronhof noch gesperrt? Blieb es still? Wie viele kamen? Was war Deine Rolle dabei?
Ja, am Samstagabend waren wir auf dem Neumarkt. Und ja, der Fronhof war noch gesperrt. Uns war wichtig, gemeinsam den Schock und die Sprachlosigkeit auszuhalten. Es kamen richtig viele, obwohl wir erst an Nachmittag einladen konnten. Der rheinische Präses Thorsten Latzel kam, die Superintendentin des Nachbarkirchenkreises Lennep, Antje Menn, auch – einfach um ihre Anteilnahme und Solidarität zu zeigen – das war schön. Gesprochen hat neben mir der Stadtdechant Michael Mohr. Die Kreiskantorin Stephanie Schlüter hat sich um Musik gekümmert. Es war alles improvisiert, und doch genau richtig. Mich hat berührt, wie sie da waren und uns vertrauten – wir wussten ja noch nicht viel über den oder die Täter, nur, dass noch niemand verhaftet worden war. Es wargut, an dem Tag einen Moment des Zusammenkommens zu haben und nicht allein zu sein mit der Fassungslosigkeit und der Trauer.
UG: Am Sonntagabend, meine Frau und ich waren in Polen angekommen, sahen wir in den deutschen Fernsehnachrichten die Stadtkirche von Solingen während des Trauergottesdienstes, allerdings nur von außen. Vor der geschlossenen Tür stand eine Fernsehjournalistin, die, wie man das heute so macht, direkt von vor Ort berichtete, weil man da angeblich näher am Geschehen dran ist. Sie erläuterte, die Gemeinde habe im Hinblick auf Trauernde Innenaufnahmen während des Gottesdienstes nicht zugelassen. Obwohl ihre Live-Berichtserstattung damit offensichtlich behindert wurde, erklärte sie, das sei jetzt notwendig, weil die Trauernden einen Schutzraum benötigten. Ich fand das vorbildlich. Musstet ihr andere Pressefotografen und Fernsehleute fernhalten? Gingen die respektvoll mit Trauernden um?
Ja, auch am Sonntag war die Kirche ein ‚safe space‘. Die Medienleute haben das akzeptiert. Klar hätten die gern Fotos und Filmaufnahmen gehabt, aber sie haben alle verstanden, dass es da um die trauernden Solinger:innen ging und um niemanden sonst. Einige Journalist:innen haben dann den Gottesdienst mitgefeiert und Notizen gemacht. Das war in Ordnung. Trotz allem: Für viele Gottesdienstbesucher:innen war es schon heftig genug, nach dem Schluss-Segen direkt vor der Tür der Kirche auf die Medienleute zu treffen. Es war wirklich nicht einfach, die Trauernden zu schützen und gleichzeitig dem ja auch berechtigten Interesse der Öffentlichkeit nachzukommen.
Die Kirche war rappelvoll, und uns hat es unglaublich gut getan, mit so vielen zusammen zu singen, zu beten und einen dünnen Faden von Trost zu fassen zu bekommen – viele brachten Blumen oder Kerzen mit, die sie vor der Kirche an dem Beet mit dem Jubiläumslogo ablegten. Das Beet wurde ein wichtiger Gedenkort, so wie die Kirche ein wichtiger Trauerraum wurde.
UG: Eigentlich bist Du ja ein politischer Mensch. Aber nach all dem, was ich indirekt gehört oder gelesen habe, hast Du gesagt, dass das jetzt nicht der richtige Moment für politische Auseinandersetzung sei, das müsse später kommen. Habe ich das richtig in Erinnerung? Hat die Kirche hier eine andere Aufgabe als politische Parteien? Oder sollten Deiner Meinung nach auch die politischen Parteien in einer solchen Situation kurz innehalten und den politischen Streit ein, zwei Tage ruhen lassen? Ich denke mal, Du bist wahrscheinlich der Meinung, dass menschliches Leid nicht instrumentalisiert werden darf. Aber kann man sich während eines Interviews ganz und gar heraushalten aus den politischen Geschehen? Eine schwierige Gratwanderung?
Das hast du richtig gehört. Ich war der Meinung – und bin es noch – dass es erst mal um die Stadt und ihre Menschen gehen musste, und nicht gleich darum, was daraus jetzt folgen soll. Wir wussten ja noch nicht viel. Und trotzdem fing schon am Sonntag Nachmittag ein Überbietungswettbewerb von ‚nach Solingen‘ angezeigten Maßnahmen an – vor allem im Blick auf innere Sicherheit und Umgang mit Migrant:innen. Solingen war aber noch nicht ‚nach Solingen‘ – Solingen war verstört und geschockt und musste erst einmal Zeit für Trauer haben. Wir wurden aber sehr bald für den Wahlkampf instrumentalisiert.
Ganz heraushalten kann man sich meiner Meinung nach nicht – so ein Terroranschlag ist ja ein politisches Geschehen und kein tragischer Unfall. Es ist auch wichtig, daraus Schlüsse zu ziehen für die Zukunft. Aber meine Erfahrung ist: Markige Worte, symbolische Akte und Direktmaßnahmen helfen wenig. Wir waren vor Ort mit uns und den Opfern und deren Angehörigen beschäftigt, das ist das Eine. Das Andere: Welche Maßnahmen die richtige Reaktion sind, braucht erst mal ein Wissen um die genauen Umstände und auch um die bestehenden Handlungsmöglichkeiten. Und Respekt vor der Menschenwürde aller. Was hilft es, etwa nach sofortigen Abschiebungen zu rufen, wenn die praktisch kaum möglich sind? Was hilft es, über die Länge von Meserklingen zu debattieren, wenn es kaum möglich ist, überall öffentliche Taschenkontrollen durchzuführen? Da braucht es etwas kühlere Köpfe für ein vernünftiges Abwägen, denn es ist wichtig, mittel- und langfristig einen stimmigeren Umgang mit Menschen ohne Aufenthaltsperspektive in Deutschland zu entwickeln, der dann auch um- und durchsetzbar ist.
UG: Neun Tage nach dem Attentat gab es eine staatliche Trauerfeier im Theater- und Konzerthaus Solingen, zu dem fast die gesamte Politikprominenz kam. Du warst gemeinsam mit Deinem katholischen Kollegen Michael Mohr auch dabei. Ihr habt die Seligpreisungen gelesen und gedeutet. Gleichzeitig habt ihr aus der hebräischen Bibel und dem Koran zitiert und mit „Friede sei mit Euch, Shalom Aleichem, Salam Aleikum“ geendet. Warum? Was bedeutet das Messerattentat für andere Religionsgemeinschaften als die evangelische (Landes-)kirche oder die katholische Kirche?
Diese Feier wurde vom Bundespräsidialamt organisiert. Der Stadtdechant und ich sollten beteiligt sein, aber kein im engeren Sinne christliches Gebet sprechen, sondern einen religiösen Impuls beisteuern, der gegenüber anderen Religionen offen ist. Wir sind dem nachgekommen. Vorher haben wir dem Vorsitzenden der jüdischen Kultusgemeinde und dem Sprecher des Kreises Solingen Muslime Bescheid gesagt, wie es kam, dass wir das so machen. Es ist ein bisschen eine Gradwanderung: auf der einen Seite bin ich evangelische Pfarrerin und rede aus einer bestimmten Glaubensperspektive, die auch erkennbar bleiben muss, auf der anderen Seite vertrete ich mit dem katholischen Kollegen bei so einem Anlass alle religiösen Menschen.
Stimmig möglich wurde das, weil ich auch bei anderen öffentlichen Anlässen z.B. den Friedenswunsch in drei Sprachen spreche und wir uns untereinander einigermaßen kennen.
Was das Attentat für die anderen Religionen bedeutet? Nun, der Täter war wohl Islamist – und die muslimischen Solinger:innen wurden nach der Tat vielfach angefeindet und gefragt, was sie eigentlich hier machen – auch wenn sie hier geboren wurden. Und in dem Bekenner-Video wurde, soweit ich weiß, ein Bezug zu Gaza und dem Krieg in Israel hergestellt – so ist auch die Synagogengemeinde angefragt. Mir ist in vielen Gesprächen klar geworden, wie verschieden wir die Tage nach dem Terroranschlag erlebt haben, je nachdem, welches Aussehen, welche Herkunft, welche Religion wir haben. Muslim:innen wurden gefragt, was sie hier wollen; der Islam wurde pauschal mit islamistischem Terror gleichgesetzt; uns evangelischen Kirchenleuten wurde vorgeworfen, wie seien selbst Schuld, weil wir uns für Rettungsschiffe im Mittelmeer einsetzen; die jüdischen Bürger:innen leiden unter immer unverschämterem Antisemitismus und Judenhass. Weilwir so verschieden betroffen sind, ist es nicht einfach, zusammenzustehen und einander zu verstehen – es ist für mich eine große Aufgabe, in dieser Situation bei öffentlichen Äußerungen einen Ton zu treffen, der Raum für die Erfahrungen anderer lässt und nicht mein Erleben verallgemeinert.
UG: Und die Wochen danach? Immer noch Ausnahmezustand? Welche Reaktionen und Mails hast Du erhalten? Was verraten die über unsere Gesellschaft?
Ja, es war noch lange Ausnahmezustand. Jetzt, nach drei Monaten, klingt das langsam ab. Was uns zu schaffen macht, ist die vielfache Täter-Opfer-Umkehr in den sozialen Medien – die Stadt sei selber schuld, was mache sie auch ein ‚Festival der Vielfalt‘, und die Kirche habe Schuld an dem Attentat, weil sie die Rettungsschiffe von United4rescue im Mittelmeer unterstütze. Vor allem die Vertreter:innen der Stadt sind mit wirklich heftigen Hass-Posts angegangen worden – das ist eine unglaublich anstrengende persönliche Belastung.Für mich überwogen bei weitem die positiven Rückmeldungen, aber es gab auch negative und beleidigende mails. Ich meine, diese Reaktionen spiegeln das Auseinanderdriften der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Und sie zeigen, dass es in der öffentlichen Auseinandersetzung immer weniger um Argumente, Einschätzungen und vernunftgeleitete Diskussion geht, sondern immer mehr um aggressive Herabsetzung derer, die nicht Teil der eigenen Meinungsblase sind. Ich halte es für ungeheuer wichtig, dazu zurückzufinden, dass Fakten und Sachargumente der gemeinsame und von allen akzeptierte Grund und das Spielfeld der Auseinandersetzungen ist, auf dem dann auch Verständigung und Kompromisse möglich sind und bestimmte Fairnessregeln gelten.
UG: Kannst du ein vorläufiges Fazit über die Rolle der Kirche in diesen Tagen ziehen?
In den Tagen nach dem Attentat war Kirche erkennbar da, erreichbar und offen – dafür haben wir auch viel positive Rückmeldung bekommen. Sie war da, war ein Schutzraum, bot Gesprächspartner:innen, Stille und Gebet, das haben viele als hilfreich und wohltuend empfunden. Sie war da, fand öffentlich Worte für das Unsagbare und hielt die Trauer und Verstörung aus, ohne gleich fertige Antworten zu haben. Wären wir nicht da gewesen, es hätte so einen Raum und so eine Stimme nicht gegeben.
UG: Vielen Dank, Ilka, für das Gespräch.
Hier die Predigt vom Sonntag, dem 26. August.
Hier die staatliche Trauerfeier vom 1. September, Ilka Werner und Michael Mohr ab 59:04