Noch einmal zum 100. Geburtstag Friedrich Dürrenmatts
Denken ist gefährlich, weil es die Welt verändern kann. Was allerdings nicht bedeutet, dass Denken vergänglich wäre: „Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden.“
Als Sohn eines liberalen Pfarrers sagt Dürrenmatt, als auch sein eigener Sohn Pfarrer wird, er sei zwischen zwei Pfarrern eingeklemmt. Dass nicht nur der Vater Theologe ist, sondern auch sein eigener Sohn, ist mehr als nur eine biografische Auffälligkeit. Dieser Umstand ist Symptom der Nähe von Dürrenmatt zur Theologie, auch wenn er mit dieser in ihrer volkskirchlichen Ausprägung wenig anfangen kann.
Die bereits im ersten Teil dieses Beitrags am 5. Januar erwähnte neue Dürrenmatt-Biografie von Ulrich Weber gibt auch einen vertiefenden Einblick in Dürrenmatts philosophischen und theologischen Werdegang, insbesondere seine Studien zu Platon, Kant, Kierkegaard und Nietzsche. Die philosophische Lektüre war ihm nicht einfach eine Frage der akademischen Ausbildung. Dürrenmatt liest existenziell. (Dies gilt auch für die 1970er, in denen Dürrenmatt durch intensive Lektüre quasi ein zweites Philosophiestudium absolviert.) Wenn wir zum Beispiel erfahren, dass Platons Staat (und das darin enthaltene Höhlengleichnis) Mitte der 1940er in der Studienzeit Gegenstand eines Seminars bei Richard Herbertz war (bekannt als der Doktorvater von Walter Benjamin), erschließt sich noch einmal ganz anders, warum Dürrenmatt dieses Motiv später in der Erzählung „Die Stadt“, in „Der Winterkrieg in Tibet“ und in der „Rede für Václav Havel“ aufgreift.
Besonders die vertiefenden Einblicke in Dürrenmatts Kierkegaard-Studien und seinen Plan einer Dissertation zu Kierkegaard und das Tragische ermöglichen ein Verständnis seines Menschenbildes, seines Ironiebegriffes und seiner Faszination für Paradoxe:
„Ohne Kierkegaard bin ich als Schriftsteller nicht zu verstehen.“
Gemeint ist damit wohl, dass er sich trotz der tiefen religiösen Prägung durch das Elternhaus und aber auch durch Karl Barth, einer kritischen Haltung verschrieben hatte, die ihm zum Zweifel an metaphysischen Gewissheiten und ideologischen Systemen verhalf.
Das Verhältnis zu Karl Barth ist ein Thema für sich. Nachdem Barth einer der wenigen Besucher war, die Dürrenmatts Erstling, „Der Blinde“, gesehen hatten, besuchte Dürrenmatt den protestantischen Theologen. In einen Brief an einen seiner Söhne schrieb Barth dann, dass er in Dürrenmatt und seinem Stück ein Abbild seiner dialektischen Theologie finde. Noch in den 70er Jahren betont Dürrenmatt seinerseits, dass die Lektüre von Barths Auslegung des Römerbriefes, eines seiner prägendsten Lektüreerlebnisse war. Ganz sicher hat Dürrenmatt den Einfluss Kierkegaards auf den jungen Karl Barth gespürt.
Jenseits aller Rekonstruktionen möglicher Lektüreeinflüsse finden sich hinreichend und pointiert Ausführungen Dürrenmatts, die sein Wissen um die unauflösliche Verbindung von Glauben und Zweifeln dokumentieren:
„Es gibt Augenblicke, da ich zu glauben vermag, und es gibt Augenblicke, da ich zweifeln muß. Das Schlimmste, glaube ich, ist, glauben zu wollen, was es nun sei, was man glauben will, sei es das Christentum oder irgendeine Ideologie. Denn wer glauben will, muß seine Zweifel unterdrücken, und wer seine Zweifel unterdrückt, muß sich belügen. Und nur wer seine Zweifel nicht unterdrückt, ist imstande, sich selbst zu bezweifeln, ohne zu verzweifeln, denn wer glauben will, verzweifelt, wenn er plötzlich nicht glauben kann. Aber wer sich bezweifelt, ohne zu verzweifeln, ist vielleicht auf dem Wege zum Glauben. Ohne ihn vielleicht je zu erreichen. Was für ein Glaube es jedoch ist, dem so einer entgegengeht, ist seine Sache. Es ist sein Geheimnis, das er mit sich nimmt, denn jedes Glaubensbekenntnis ist unbeweisbar, und was nicht bewiesen werden kann, soll man für sich behalten.“
Immer wieder finden wir auch in der Kurzprosa Texte, die eine eigentümlicher Mischung von Zweifel und Vertrauen zeigen, so zum Beispiel in der Erzählung Der Tunnel (1951/52).
Ein junger Mann, sehr transparent für die Figur des Autors, entdeckt, dass ein Zug nach der Einfahrt in einen Tunnel ausser Kontrolle geraten ist. Nachdem er sich mit einem Zugbegleiter in den Führerstand der Lokomotive vorgearbeitet hat, müssen beide erkennen, dass dieser leer ist. Der Lokführer scheint längst abgesprungen zu sein. Die Frage des Zugführers, was denn nun zu tun sei, beantwortet der junge Mann mit dem letzten Satz der Erzählung: „Nichts. Gott ließ uns fallen und so stürzen wir denn auf ihn zu.“
Neben diesem und anderen religionskritischen Motiven in offensichtlicher Nähe zu Nietzsches Denken, findet sich aber auch eine Dauerpräsenz neutestamentlicher bzw. biblischer Motive im Werk Dürrenmatts. Das gilt zum Beispiel für die Erzählung vom Turmbau zu Babel. Das gilt aber auch für die Erzählung von der Kreuzigung Jesu, die in verschiedenen Brechungen und Perspektiven immer wieder begegnet, nicht zuletzt in zahlreichen Zeichnungen und Bildern des Pfarrerssohnes.
In aller lebendigen Auseinandersetzung mit der philosophisch-theologischen Tradition bleibt Dürrenmatt in der Selbstwahrnehmung ein Schriftsteller. exemplarisch belegt das der erste der berühmten „21 Punkte zu den Physikern“: „Ich gehe nicht von einer These, sondern von einer Geschichte aus.“
In allem was er tut, im Philosophieren, im Schreiben, im Malen, bleibt Dürrenmatt bodenständig, weil er um die Notwendigkeit der Demut angesichts der Anfechtung weiß:
„Der Mensch ist offenbar ein Pechvogel, nicht weil er nicht fliegen könnte – das kann er ja inzwischen –, sondern weil er immer wieder vom Himmel verführt wird, mehr als ein Mensch sein zu wollen: etwas Absolutes.“ Die Lektüre der Texte dieses Kenners des Pechvogeldaseins kann uns zum Glücksfall werden. Und zur Orientierung, wo zwischen Himmel und Erde wir uns gerade bewegen