Der Cellist auf dem Foto meiner Urgroßmutter

Dr. Uwe Gerrens
von Dr. Uwe Gerrens

Zum Internationalen Gedenktag der Opfer des Holocausts

Die „Elphi“, das Hamburger Architekturdenkmal, das viele Hamburger noch immer nicht von innen kennen, weil die Karten immer alle ausgekauft sind, hatte einen Vorgänger: die Große Musikhalle, heute nur noch die Nummer zwei unter den örtlichen Konzertgebäuden.

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Unter alten Familienfotos fand ich das Foto von einer Probe zur Einweihungsfeier am 4. Juni 1908. Es muss viele Jahre an der Wand gehängt haben, lässt Spuren einer Rahmung erkennen und ist stark ausgeblichen (hier technisch nachbearbeitet). Bei der Einweihung spielte man Händels Messias. Die große Bühne war, wie man sehen kann, völlig vollgestellt. Wahrscheinlich haben eine Reihe Hamburger Kirchenchöre mitgesungen. Vielleicht war meine Urgroßmutter dabei (erkennen kann ich sie nicht, aber das will nichts heißen), vielleicht hat sie auch nur unter den Zuhörern gesessen. Bei damaliger Musikpraxis und so vielen Sängerinnen und Sängern stelle ich mir das „Halleluja“ ohrenbetäubend laut vor.

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Auf der Rückseite steht in der Handschrift meiner Urgroßmutter: „Dirigent Julius Spengl, Violinist Bandler, Cellist: Sakom“. Beim ersten Entziffern meinte ich mich an den Namen Sakom erinnern zu können, brauchte aber, bis mir von Jakob Sakom herausgegebene Violoncello-Etüden einfielen, die ich als Kind und Jugendlicher gespielt habe. Sie sind 1910 im Druck erschienen und werden bis heute nachgedruckt. Ich habe sie nicht geliebt, aber auch nicht für schlimmer gehalten als andere Etüden. Die meisten Schüler, ich jedenfalls, spielen lieber ‚richtige‘ Musikstücke. Die meisten Lehrerinnen und Lehrer, meine jedenfalls, müssen gelegentlich ermahnen, dass es ohne Technik in der Musik nicht geht. Also spielte ich, was sie für mich ausgesucht hatte, und interessierte mich nicht dafür, wer das in einem Heft zusammengestellt hatte. Gewiss hätte meine Lehrerin gewusst, wer Jakob Sakom war und hätte es mir erklärt. Vielleicht hätte sie mir sogar erzählen können, wie er gespielt hat, denn auch sie war in Hamburg aufgewachsen und alt genug, um ihn noch gehört haben zu können. Ich habe sie nicht danach gefragt. Ich mochte keine Etüden.

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Auf dem Foto sitzt das Orchester in deutscher Aufstellung, die Celli links hinter den ersten Geigen. Es ist scharf genug zum Vergrößern: Im Detailausschnitt muss es sich bei dem linken der beiden ersten Geigen um Heinrich Bandler und beim linken der beiden Celli um Jakob Sakom handeln.

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Wer war Jakob Sakom? Heute kann man es im „Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit“ nachlesen. 1877 in Litauen (damals Russland) geboren, wurde er 1905 Solocellist der Hamburger „Philhamonischen Gesellschaft“ für 29 Jahre. Nebenbei [h1] unterrichtete er privat und am Konservatorium (deshalb die Etüden) und prägte damit eine Generation. Zu seinen herausragenden Leistungen gehörte die Uraufführung von Max Regers vierter Cellosonate, die dem ursprünglichen Widmungsträger Julius Klengel („Das tägliche Pensum“, Bd. 1 bis 3) zu schwer war. Bei der Hamburger Uraufführung von Arnold Schönbergs „Pierrot lunaire“ wirkte er unter der Leitung des Komponisten als Cellist mit.

Aus der Zeit vor 1933 sind kaum antisemitische Anfeindungen überliefert. Allerdings soll der Dirigent Karl Muck, ein früher Verehrer Hitlers, beim Betreten des Dirigentenpodests zwischen Celli und ersten Geigen hindurchschreitend einmal für alle hörbar die Bemerkung gemacht haben: „Jetzt trete ich durch’s Judentor“, was sich gegen Bandler rechts und Sakom links richtete. Eine Enkelin Sakoms erinnerte sich später an einen Besuch 1934 bei der Zauberflöte. Beim gemeinsamen Auf- und Abgehen in der Pause, habe ihr der Großvater erklärt, wer die Leute waren und ihre Namen genannt, alte Bekannte. Viele hätten sich umgedreht, aber fast nie hätten sie gegrüßt.

1934 wurde Sakom entlassen und musste seine nicht-jüdischen Schülerinnen und Schüler entlassen. Er erhielt ein unzureichendes Ruhegehalt, beteiligte sich an einem jüdischen Kammerorchester, auch an einem Streichquartett, trat noch im Mai 1938 in der Frankfurter Westendsynagoge auf. Er floh nach Litauen, kehrte also in seine nach dem ersten Weltkrieg unabhängig gewordene Heimat zurück, arbeitete als Cellodozent in Kaunas und Wilna/Vilnius und hatte gelegentliche Auftritte im Litauischen Rundfunk.

Nach dem Einmarsch der Deutschen verliert sich seine Spur. Die Enkelin hörte später, er sei im Oktober 1941 durch Einsatztruppen erschossen worden.

Der Platz vor der Hamburger Musikhalle wurde 1934 nach dem damaligen Dirigenten „Karl-Muck-Platz“ genannt. 1997 beschloss der Hamburger Senat, ihn nach Johannes Brahms umzunennen.

Es ist nicht viel, was von einem 1941 ermordeten Orchestermusiker bleibt. Schallplatten von ihm konnte ich nicht ermitteln. Echte Kompositionen gibt es auch nicht. Heute erinnert an ihn ein Stolperstein vor seinem Wohnhaus, etwa einen Kilometer von meinem Elternhaus entfernt, und ein weiterer vor der Großen Musikhalle. Wahrscheinlich war er kein ganz großer Musiker, nur eine Lokalgröße. Aber das war er.

Für meine Urgroßmutter hingegen wird, sofern sie mitgesungen hat, die Einweihung der Großen Musikhalle mit einem Profiorchester und so bekannten Personen ein großes Ereignis gewesen sein. Sie hatte ein Abonnement beim Philharmonische Orchester. Ist ihr aufgefallen, dass 1934 bei der Fusion der staatsunabhängigen „Philharmonischen Gesellschaft“ mit dem Orchester des staatsabhängigen „Stadttheaters“ zum staatsabhängigen „Philharmonischen Staatsorchester“ die jüdischen Musiker herausfielen und nur noch „arische“ Musiker erwünscht waren? Hat sie davon gehört, dass Sakom 1938 Deutschland verließ?

Mindestens ebenso schockierend wie die Ermordung am Ende empfinde ich die vergleichsweise geräuschlose Entlassung 1933/34 und die Durchsetzung einer Separierung von der Mehrheitsbevölkerung.

Orchesterspiel ist eine Mannschaftleistung. Der Solocellist war natürlich wichtig; aber jeder war austauschbar, und für jeden, der entlassen wurde, standen zehn andere bereit, die auch nicht schlecht spielten und die Stelle auch gerne genommen hätten.   Am vergangenen Donnerstag war Holocaust-Gedenktag. Erstmalig wurde ich auf die zentrale Datenbank in Yad Vashem aufmerksam, die alle Namen zu sammeln versucht und noch im Aufbau begriffen ist. Sie kennt einen Jakob Sakom, der lange in Hamburg gelebt hat und ermordet wurde (keine weiteren Angaben) und einen Yakov Zakom, der in Wilnius in Litauen gelebt hat und einem russischen Dokument zufolge zwischen dem 24.6.1941 und dem 13.7.1944 erschossen wurde. Ich denke, dass es sich um ein- und dieselbe Person handelt, einmal mit lateinischen und einmal mit kyrillischen Buchstaben geschrieben.

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Ein Kommentar

  1. Ulrich Erker-Sonnabend

    Lieber Herr Gerrens,
    dies ist eine anrührende und sehr bewegende Lebensgeschichte. Dank dafür.
    Herzliche Grüße
    Ulrich Erker-Sonnabend

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