„Der Islam gehört zu Deutschland“

Dr. Uwe Gerrens
von Dr. Uwe Gerrens
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Vor zehn Jahren, am Tag der deutschen Einheit, hielt Bundespräsident Wulff seine umstrittene Rede. Was genau hat er gesagt? Terminbedingt ging es am 3. Oktober 2010 um die deutsche Einheit. Der Islam wurde explizit nur ein einziges Mal erwähnt. Hier der ganze Absatz:  

Zu allererst brauchen wir aber eine klare Haltung. Ein Verständnis von Deutschland, das Zugehörigkeit nicht auf einen Pass, eine Familiengeschichte oder einen Glauben verengt, sondern breiter angelegt ist. Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte.  Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland!“
Wulf hatte also gesagt, dass Christentum und Judentum „zweifelsfrei“ zu Deutschland gehörten, und der Islam „inzwischen auch“.

Ihm widersprach Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) am 3. März 2011 programmatisch während der Bundespressekonferenz zu seiner eigenen Amtseinführung:

”Ich denke, dass die Menschen, die hier leben und islamischen Glaubens sind, natürlich hier auch Bürger in diesem Land sind und zu diesem Land gehören, aber dass der Islam zu Deutschland gehört, ist eine Tatsache, die sich aus der Historie nirgends belegen lässt”.

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Demnach verlangte Friedrich nach Belegen aus der „Historie“. Wulf hatte allerdings gar nicht von der Geschichte des Islams in Deutschland gesprochen. Ihm ging es vor allem um die Veränderungen der letzten Jahre, im Kern um den Satz „Wir sind ein Volk“, der 1990 auf vielen Plakate zu lesen gewesen war. Das wollte Wulff inklusiv verstanden wissen:   

„Wir sind Deutschland. Ja: Wir sind ein Volk. Weil diese Menschen mit ausländischen Wurzeln mir wichtig sind, will ich nicht, dass sie verletzt werden in durchaus notwendigen Debatten. Legendenbildungen, die Zementierung von Vorurteilen und Ausgrenzungen dürfen wir nicht zulassen. Das ist in unserem eigenen nationalen Interesse. Wenn mir deutsche Musliminnen und Muslime schreiben: ‚Sie sind unser Präsident‘ – dann antworte ich aus vollem Herzen: Ja, natürlich bin ich Ihr Präsident! Und zwar mit der Leidenschaft und Überzeugung, mit der ich der Präsident aller Menschen bin, die hier in Deutschland leben.

Ich habe mich gefreut über den offenen Brief einer Gruppe von Schülerinnen und Schülern mit familiären Wurzeln in 70 verschiedenen Ländern. Sie alle sind Stipendiaten einer Stiftung, die engagierte Jugendliche in Deutschland unterstützt. Sie schreiben: ‚Für uns spielt keine Rolle, woher einer kommt, sondern vielmehr, wohin einer will. Wir glauben daran, dass wir gemeinsam unseren Weg finden werden. Wir wollen hier leben, denn wir sind Deutschland.‘

Natürlich spielt es eine Rolle, woher einer kommt. Es wäre schade, wenn das nicht so wäre. Aber die entscheidende Botschaft dieses Appells lautet: Wir sind Deutschland! Wir sind Deutschland. Ja: Wir sind ein Volk. Weil diese Menschen mit ausländischen Wurzeln mir wichtig sind, will ich nicht, dass sie verletzt werden in durchaus notwendigen Debatten. Legendenbildungen, die Zementierung von Vorurteilen und Ausgrenzungen dürfen wir nicht zulassen. Das ist in unserem eigenen nationalen Interesse.“

Was Wulf über die Zugehörigkeit des Islams zu Deutschland gewagt hatte, war weder originell, noch neu. So oder so ähnlich hatte es sein Parteifreund Wolfgang Schäuble als Innenminister schon 2006 auf der ersten Islamkonferenz schon formuliert. Damals war das kaum auf Kritik gestoßen (die Islamkonferenz an sich aber schon).

Joachim Gauck und Horst Seehofer hingegen wollten Wulffs Aussage dahingehend korrigieren, dass nicht der Islam, sondern die Muslime zu Deutschland gehörten. An sich erscheint mir das nachvollziehbar, weil auch ich jede Religion von ihren Anhängerinnen und Anhängern unterschieden wissen möchte. Der Vorschlag hätte mich allerdings besser überzeugt, wenn sie diesen Unterschied auch bei anderen Religionen ausformuliert hätten: Das Christentum gehört nicht zu Deutschland, nur die Christen. Das Judentum gehört nicht zu Deutschland, nur die Juden. Dann hätten sie ihr Interesse an sauberer Terminologie und der Religionsneutralität des Staates deutlich gemacht. So aber gewinnt man mehr implizit als explizit den Eindruck, Christentum und Judentum gehörten dazu, der Islam aber nicht, was der Religionsneutralität des Staates wieder widerspräche.

Nikolaus Schneider, Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland und Ratsvorsitzender der EKD, formulierte, der Islam gehöre „als Lebenswirklichkeit“ zu Deutschland. Hier war der Sprachgebrauch korrekt, abgesichert und unanfechtbar. Schneider beschränkte sich allerdings darauf, den status quo zu beschreiben, und vermied alle programmatischen Untertöne.  Im Unterschied dazu ließ sich Wulffs These, der Islam gehöre zu Deutschland, vor allem deshalb so gut kontrovers diskutieren, weil der Begriff des Dazugehörens zwischen Lebenswirklichkeit und normativem Anspruch, zwischen Staatsbürgerschaftsrecht und Alltagsleben schillerte und eben nicht eindeutig war.

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Als Helmut Kohl in den achtziger Jahren behauptete, Deutschland sei kein Einwanderungsland, verschloss er die Augen vor der Lebenswirklichkeit von Millionen Menschen und stieß diejenigen, die angeblich nie eingewandert waren, vor den Kopf, indem er ihnen zu suggerieren versuchte, dass sie auch in Zukunft nicht dazugehören sollten. Seither hat sich einiges geändert. Wulff blickte bereits auf ein zum Teil geändertes Einbürgerungsrecht zurück und machte als Bundespräsident klar, dass er sich allen verantwortlich fühle, sogar denjenigen, die hier lebten und (aus welchen Gründen auch immer) keinen deutschen Pass besäßen.  Das hätte den Debattenstil ändern müssen. Gleichwohl gibt es bis in die Gegenwart Menschen wie den Verfassungsschutzpräsidenten Hans Georg Maaßen, die die Zugehörigkeit in längeren Zeiträumen messen:   

„Der Islam stammt weder aus Deutschland, noch hat er Deutschland in den letzten tausend Jahren geprägt. Das Gegenteil ist sogar richtig: Die abendländische Geschichte ist durch die Abgrenzung vom Islam geprägt. Der Islam war immer etwas Fremdes, etwas anderes gewesen.“

Hier irrte Maaßen. Vor tausend Jahren war der Islam hierzulande keineswegs fremd. Die meisten „Deutschen“ wussten vermutlich nicht einmal, dass es ihn gab. In München lebten weder Christen, noch Juden, noch Muslime; München gab es noch nicht, nicht einmal Wittelsbacher, und ob man Otto III. einen deutschen Kaiser nennen darf, ist unter deutschen Historikern umstritten. Otto nannte sich „Romanorum Imperator Augustus“ und herrschte über das „Sacrum Imperium Romanum“. Der althochdeutsche Begriff „diutisc“ tauchte unter seinen Titeln nicht auf, und hätte auch eher die Bedeutung „zum Volk gehörig“ (also nicht zum Adel) bedeutet, und weniger dem heutigen „deutsch“ entsprochen.

Bei der „abendländischen“ Geschichte (im Gegensatz zur „morgenländischen“) handelt es sich im Wesentlichen eine Rückprojektion des frühen neunzehnten Jahrhunderts, in Deutschland das Zeitalter der Romantik und des Vorkolonialismus. Nach Vorläufern in der wilhelminischen Ära wurde der Begriff „Abendland“ bei uns in den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts populär. Unter Adenauer wurde das christliche Abendland mit Westeuropa identifiziert, NATO-Mitglieder plus Frankreich. Das Abendland endete im Osten an der Elbe. Was dahinter lag, das katholisch geprägte Polen und das orthodoxe Rumänien mit seiner dem italienischen eng verwandten Sprache, gehörte nicht zum „christlichen Abendland“, auch andere orthodox geprägte Länder nicht, mochte dort der „gottlose Kommunismus“ herrschen wie in der Sowjetunion oder die militärisch „uns“ zuzurechnende Militärdiktatur Griechenlands.

Mehr implizit als explizit wurde das „Abendland“ durch den Zerfall der Sowjetunion nach Osten über Dresden hinaus bis kurz vor Wladiwostok erweitert. Seit dem 11. September 2001 liegt das „Morgenland“ mehr im Süden als im Osten, die muslimisch geprägten Länder. Dieser Kurswechsel hat mehr mit der Logik von Abgrenzungsmechanismen zu tun als mit der Religion im engeren Sinne. Niemand behauptet deswegen, dass der Islam in Westeuropa entstanden wäre. Nur: Judentum und Christentum auch nicht. Der babylonische Talmud wurde im heutigen Irak geschrieben, Paulus hatte sein Damaskuserlebnis in der Hauptstadt des heutigen Syriens. „Abendland“ ist das nicht.

Wulff hat seinen Satz variiert, als er am 19.10.2010 vor der großen türkischen Nationalversammlung sprach

„Hier in der Türkei hat das Christentum eine lange Tradition. Das Christentum gehört zweifelsfrei zur Türkei. Ich freue mich, an diesem Donnerstag in Tarsus einen ökumenischen Gottesdienst mitfeiern zu dürfen. Ich höre mit großer Begeisterung, dass in der Türkei immer mehr Stimmen zu hören sind, die mehr Kirchen für Gottesdienste öffnen wollen. Zu dieser Entwicklung möchte ich nachhaltig ermutigen: Die Religionsfreiheit ist Teil unseres Verständnisses von Europa als Wertegemeinschaft. Wir müssen religiösen Minderheiten die freie Ausübung ihres Glaubens ermöglichen. Das ist nicht unumstritten, aber es ist für die Zukunft der Welt absolut notwendig.”

Auch hier argumentierte Wulff nur sehr kurz mit der Vergangenheit. Er spielte an auf das griechisch-orthodoxe, armenische, georgisch-orthodoxe, bulgarisch-orthodoxe und syroaramäische Christentum, von dem in der Türkei nicht viel geblieben ist. Nichtsdestotrotz forderte er, die wenigen türkischen Christen, die es heute noch gebe, dürften nicht ausgegrenzt werden. Für sie klagte er Religionsfreiheit ein und gab sich 2010 noch ziemlich optimistisch, dass die Türkei dazu auf dem richtigen Weg sei. Er berief sich dafür nicht aufs „Abendland“, sondern auf „Europa“, wobei er gewiss an einen möglichen Eintritt der Türkei in die Europäische Union dachte: Nicht ohne Religionsfreiheit.    

Soweit ich sehe hat keiner der deutschen Wulff-Kritiker bestritten, dass das Christentum zur Türkei gehöre. Wulff trat in Deutschland wie in der Türkei für dieselbe Religionsfreiheit ein und redete nicht nach Innen wie nach Außen mit gespaltener Zunge. Seine Präsidentschaft ist aus anderen Gründen missglückt. Übrig geblieben ist von ihr aber dieser eine Satz, der in der Regel auch noch unvollständig zitiert wurde. Er ist weder originell noch revolutionär. Wulff bewegte sich ganz und gar auf dem Boden des Grundgesetzes, der Europäischen Menschenrechtskonvention und der UNO-Menschenrechtserklärung, wichtige Meilensteine, auch wenn alle drei jüngeren Datums sind.  

Polit-Historiker hingegen fassen tausend Jahre Geschichte in drei Sätzen zusammen und erklären diese angebliche Tradition flugs für normativ. Deshalb zum Spaß noch eine Schilderung des persischen Geographen al-Qazwīnī (1203-1283), der die Welt nicht in Morgendland und Abendland einteilte, sondern nach Klimazonen. Wie es in Infrandscha („Land der Franken“) aussah, wusste er unter anderen aus Schilderungen arabisch-spanischer Gesandter, die bei ihrem König „Uth“ (Otto) gewesen waren. „Ganz fürchterlich“ kalt sei in dessen großem christlichen Königreich („fünfte Klimazone“). Das Land sei reich an Obst und Feldfrüchten, seine Flüsse böten ganzjährig ergiebig Wasser, und den Schmieden dort gelängen Schwerter, die selbst die indischen an Qualität überträfen. Abstoßend sei allerdings die Hygiene:

„Du siehst nichts Schmutzigeres als sie, und sie sind perfide und gemein von Charakter; sie reinigen und waschen sich nur ein oder zweimal im Jahr mit kaltem Wasser, ihre Kleider aber waschen sie nicht, seitdem sie sie angezogen haben, bis sie in Lumpen zerfallen.  Sie scheren ihre Bärte und es sprossen nach dem Scheren nur abscheuliche Stoppeln. Man fragte einen (von ihnen) nach der Bartschur, und er gab zur Antwort: „Das Haar ist etwas Überflüssiges, ihr entfernt es von euren Schamteilen, wie sollten wir es in unseren Gesichtern dulden?!“

Was folgt daraus für die Gegenwart? Nichts.

„Arabische Berichte von Gesandten an germanische Fürstenhöfe aus dem 9.und 10. Jahrhundert“ können in kommentierter Übersetzung hier heruntergeladen werden (Zitat Seite 31).

https://warburg.sas.ac.uk/pdf/nde5b2287023.pdf

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