„Der Mann, der das Schweigen brach“

Wie die Welt vom Holocaust erfuhr

Dr. Uwe Gerrens
von Dr. Uwe Gerrens

„Familie Schulte“ steht auf der Tafel eines Grabes auf dem Düsseldorfer Nordfriedhof, das der Düsseldorfer Bildhauer Friedrich Kühn um 1900 gestaltet hat. In gewissen Kreisen waren größere Familiengräber damals durchaus üblich, wenn auch dieses besonders großzügig gestaltet ist. Der 1891 geborene Eduard Schule wuchs nicht gerade in kleinen Verhältnissen auf. Doch verlief seine Karriere selbst für diese Verhältnisse nach dem Jura-Studium steil. Er wurde Unternehmer und leitete eines der größten deutschen Bergbauunternehmen, die „Bergwerksgesellschaft Georg von Giesche’s Erben“, eine Aktiengesellschaft mit Schwerpunkt in Schlesien, einige Niederlassungen auch in der Nähe von Oświęcim, dem späteren Auschwitz. Soweit für mich erkennbar,  verlief seine Karriere politisch unauffällig, auch in den ersten Jahren Nationalsozialismus, alles andere als oppositionell.

Foto: Grabstätte der Familie Schulte, Bildrechte: Wikimedia Commons, Jula2812, Lizenz: CC BY-SA 4

Als sogenannter „Wehrwirtschaftsführer“ besaß Schulte auch im Zweiten Weltkrieg ein Visum für die Schweiz. Über verschiedene Zwischenstationen gelangte er an den Anlageberater Isidor Koppelmann, über den er sich indirekt an Gerhard Riegner wandte, den Genfer Repräsentanten des jüdischen Weltkongresses, einigen vielleicht aus dem Film „Shoah“ von Claude Lanzmann bekannt. Schulte behauptete, aus zuverlässiger Quelle Informationen aus dem ‚Führerhauptquartier‘ zu haben, wonach sämtliche Juden Europas umgebracht werden sollten. Riegner kannte Schulte nicht, versprach Anonymität, hielt ihn aber aufgrund der Referenz eines gemeinsamen Bekannten für zuverlässig und brachte das mit Hitlers Reichstagsrede von 1939 vom 30. Januar 1939 zusammen, in der Hitler die „Vernichtung des Europäischen Judentums“ für den Fall eines Krieges angekündigt hatte. Auch lagen diverse andere Informationen vor allem aus Polen vor.

Fast alle Botschaften verfügten damals über ein eigenes, von den Schweizer Behörden toleriertes Funkgerät, mit dem sie verschlüsselt mit ihren jeweiligen Außenministerien kommunizierten. Am 8. August 1942 gab Riegner bei der amerikanischen Botschaft sein heute berühmtes Telegramm an Rabbi Wise auf, wonach ihm zuverlässige Informationen vorlägen, dass im ‚Führerhauptquartier‘ ein Plan erwogen und diskutiert werde, „alle Juden in von Deutschland besetzten oder kontrollierten Ländern Anzahl dreieinhalb bis vier Millionen nach Deportation und Zusammenfassung im Osten mit einem Schlag auszurotten“. Sogar die Blausäure als ihm genanntes Mordmittel gab Riegner weiter, obwohl er als Nicht-Chemiker nicht wusste, wie man das hätte anstellen sollen und die kristalline Form der Blausäure, Zyklon B, nicht kannte. Schulte irrte sich beim Datum, an dem der Plan gefasst sein musste: Auch wenn dieses bis heute nicht genau bekannt ist und vielleicht auch nie protokolliert wurde,  muss der Entschluss früher gefallen sein. Doch davon abgesehen handelte es sich um eine der frühesten und präzisesten Warnungen, von denen man bis heute weiß.

Im amerikanischen State Department hielt man Riegners Telegramm für “a wild rumor inspired by Jewish fears” und leitete es deshalb nicht weiter. Doch hatte Riegner ein zweites Telegramm bei der britischen Botschaft für Samuel Sydney Silverman aufgegeben, der zur britischen Sektion des Weltkongress gehörte und für Labour im Unterhaus saß. Von London aus erreichte die Nachricht Rabbi Wise mit 20 Tagen Verspätung doch noch. Wise sprach mit jemandem, der mit Roosevelt befreundet war. In Roosevelts Administration scheint man sich unsicher gewesen zu sein, ob man Riegners Informationen trauen könne. Wise schrieb einen verzweifelten Brief an einen befreundeten unitarischen Pastor, der seinerseits den Generalsekretär des nordamerikanischen Kirchenrates Samuel McCrea Cavert bat, bei dessen Fahrt zum in Entstehung begriffenen Weltkirchenrat der Sache nachzugehen. McCreaCavert reiste über Lissabon, Spanien und Vichy-Frankreich nach Genf, sprach mit Riegner, der alles tat, um ihn zu überzeugen, und nahm beim Weltkirchenrat an einer Sitzung teil. Dort hatte vor allem Adolf Freudenberg, ein ehemaliger deutscher Diplomat, mit einer „Nichtarierin“ verheiratet und inzwischen Pfarrer und Leiter der Flüchtlingsabteilung im Weltkirchenrat, alle  Nachrichten über Judenverfolgungen gesammelt, die ihn erreicht hatten. Dutzende Aktenordner sind erhalten. Vor allem aber hatte er sich mit Riegner ausgetauscht, im Sommer 1942 fast täglich. Bei der Sitzung unterstützte Freudenberg Riegners Version und erklärte am 25.9.1942 auch für das in mehrere Länder verschickte Protokoll: „According to different trustworthy reports, deportation means in many cases extermination”. Cavert fuhr in die USA zurück, war aber noch immer davon überzeugt, dass sowohl der Jüdische Weltkongress als auch der Weltkirchenrat sich irren mussten und der Tod so vieler Menschen wahrscheinlich durch Verhungern und Erfrieren bei Zwangsarbeiten herbeigeführt sei. Erst im Dezember revidierte Cavert seine eigene Position und formulierte eine Entschließung des amerikanischen Kirchenbundes, die von einer “deliberate extermination of the Jews in Europe” sprach. Das konnte man in der New York Times nachlesen.

In der Schweiz gab es eine Pressezensur, die eine öffentliche Diskussion um alles, was in Deutschland geschah, hochgradig erschwerte, allerdings nicht lückenlos funktionierte, so dass einiges durchaus gedruckt wurde, nicht allerdings die im März 1943 von Riegner und Visser ’t Hooft verfasste gemeinsame Erklärung des Jüdischen Weltkongresses und des Weltkirchenrates (darüber berichtete aber z.B. die Jewish Telegraphic Agency). In der Erklärung heißt es:

„Die Sekretariate des Ökumenischen Rates der Kirchen und des jüdischen Weltkongresses verfügen über höchst zuverlässige Berichte, die zeigen, dass die von den Nazi-Behörden organisierte Kampagne einer genau vorbedachten Ausrottung der Juden in fast allen europäischen Ländern jetzt ihren Höhepunkt erreicht.“

Die gemeinsame Erklärung begrüßte die Absicht, sämtlichen aus den Achsenländern geflohenen Personen Fluchtmöglichkeiten zu ermöglichen, forderte aber vor allem eine Prioritätensetzung, weil die Lage der jüdischen Gemeinschaften unter Nazi-Kontrolle „das dringendste und zugespitzteste Problem“ darstelle und „unverzügliches“ Handeln erforderlich mache. Maßnahmen unmittelbarer Lebensrettung sollten Vorrang haben vor allen Überlegungen zur Gestaltung der Nachkriegszeit. Die neutralen Staaten, also Schweden, die Schweiz, die Türkei, Spanien und Portugal, sollten mit Geld und Lebensmitteln dabei unterstützt werden, Flüchtlinge aufzunehmen. Die Exilregierungen besetzter Länder sollten Garantieerklärungen abgeben, dass die Flüchtlinge nach Beendigung des Krieges repatriiert würden oder aus den neutralen Ländern auswandern könnten, wohin, wurde offengelassen.

Gebracht hat das im Wesentlichen nichts, oder nur sehr wenig: Einige wurden gerettet, auch in  die Schweiz, nach Schweden oder über Portugal in die USA, die meisten aber nicht. Weitgehend ohne Ergebnis blieben auch die Bemühungen der Anglikanischen Kirche, die auf nicht immer ganz klaren Kanälen durch Genf informiert wurde. Insbesondere William Temple, der Erzbischofs von Canterbury, organisierte schon im Oktober 1942  die erste Protestversammlung mit etwa 10 000 Personen in der Royal Albert Hall (gemeinsam mit Exilregierungen und jüdischen Organisationen), gründete einen „Jewish-Christian Council“ und half dabei, regelrechte Kampagnen zu organisieren, darunter eine überparteiliche Resolutionen im Unterhaus, die allerdings nie ganz die Mehrheit im Parlament erreichte,  in dem eine große Koalition aus Torries und Labour regierte. Exemplarisch für die Deutlichkeit, mit der Temple sprach, hier Auszüge seiner Rede vom 23. März 1943 im Oberhaus, in dem er als „Lordbischof“ Sitz und Stimme hatte:

„Wir sind mit einem Bösen konfrontiert, dessen Größe und Grauen sich nicht mit Worten beschreiben lässt. […]

Diese Wut hat sich auf die Juden konzentriert. Wir sollten dem, was sich da vollzieht, unser ganz besonderes Augenmerk schenken. […] Hitler hat erklärt, dass dieser Krieg entweder zur Ausrottung des jüdischen Volkes oder des deutschen Volkes führen muss und dass es nicht die Deutschen sein sollten. Er setzt diese Drohung jetzt in die Tat um. Und wir können ohne Zweifel sehr wenig tun, um ihn zu stoppen. […] Meine ganze Bitte besteht darin, dass, was immer auch wir unternehmen, mag es viel oder wenig sein, immer alles in unserer Macht Stehende sein sollte. Wogegen ich mich vor allem anderen scharf wende, ist jede Art von Zögern und Aufschieben.

Unsere Regierung brauchte geschlagene fünf Wochen seit dem 17. Dezember 1942, um sich an die Vereinigten Staaten zu wenden, und die Vereinigten Staaten brauchten weitere sechs Wochen, um zu antworten, und sie schlugen ein Treffen mit weiteren Sondierungen vor. Die Juden werden täglich zu Zehntausenden abgeschlachtet, aber man schlägt vorbereitende Sondierungen vor. […]

Wir tragen in diesem Augenblick eine enorme Verantwortung. Wir sitzen auf der Anklagebank der Geschichte, der Menschheit, Gottes.“

Eduard Schulte, Riegners Informant, kehrte nach Deutschland zurück und setzte seine Arbeit im Bergbauunternehmen fort. 1943 wurde sein Kontakt zu Allen Dulles vom amerikanischen Geheimdienst OSS verraten, er wurde gewarnt und floh gerade noch rechtzeitig in die Schweiz. Riegner traf ihn im Krieg zweimal, doch tat Schulte so, als habe er mit der Sache nichts zu. Riegner verstand das nicht, hielt aber sein Versprechen. 1970 vom Kirchenhistoriker Armin Boyens befragt, antwortete Riegner, er gebe den Namen nicht preis. Ähnlich schweigsam blieb er noch Anfang der achtziger Jahre, wenn ich mich richtig erinnere auch gegenüber meinem damaligen Mitdoktoranden Jürgen Schäfer. Als der Historiker Walter Laqueur schließlich von sich aus 1986 auf Schulte kam und das auch veröffentlichte, brach Riegner sein Schweigen und bestätigte Laqueurs Schlussfolgerungen. Da lag Schulte schon zwanzig Jahre tot im Familiengrab auf dem Düsseldorfer Nordfriedhof.

Leicht zugänglich:
Interview mit Gerhard Riegner im Spiegel – https://www.spiegel.de/politik/es-fehlte-der-wille-zum-retten-a-33f6f4b6-0002-0001-0000-000020462148?context=issue

Bücher:
Riegner, Gerhard, Niemals Verzweifeln – Sechzig Jahre für das jüdische Volk und die Menschenrechte, Gerlingen 2001.
Walter Laqueur/ Richard Breitman, Der Mann, der das Schweigen brach. Wie die Welt vom Holocaust erfuhr, Frankfurt 1986.

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