Zum Tode des Jahrhundert-Theologen Eberhard Jüngel
Einer der schönsten Filme zur deutsch-deutschen Geschichte der vergangenen beiden Jahre erzählt die (auf realen Ereignissen basierende) Geschichte vom schweigenden Klassenzimmer. Aus Protest gegen den Einmarsch der Sowjetunion in Ungarn im Jahre 1956 erhebt sich eine ganze Schulklasse in Stalinstadt (später Eisenhüttenstadt) zu zwei Schweigeminuten. Letztlich kostet dieser Mut die Schüler ihre Studienperspektiven in der DDR. Nur vier Schüler der Klasse verbleiben daraufhin in Ostdeutschland, alle anderen emigrieren in den Westen.
Das Szenario wirkt gleichermaßen wie ein Vorspiel und ein Nachspiel zu Erlebnissen des jungen Eberhard Jüngel, der im Dezember 1934 in Magdeburg als Kind religiös nicht interessierter Eltern geboren wurde. Zum Studium der Theologie kommt er unter anderem, weil er die evangelische Kirche als Ort der Freiheit erlebt, an dem er Wahrheiten aussprechen kann. Er selbst spricht in einem biografischen Rückblick von der
„Entdeckung der evangelischen Kirche als des einzigen mir damals zugänglichen Ortes innerhalb der stalinistischen Gesellschaft, an dem man ungestraft die Wahrheit hören und sagen konnte.“
Einen Tag vor dem Abitur wurde er der Schule verwiesen, weil er gegen die Beschlagnahme der größten diakonischen Einrichtung Magdeburgs, die Pfeifferschen Anstalten, protestierte.
In seinen eigenen Worten:
„Unmittelbar vor dem Arbeiteraufstand 1953 wurde ich einen Tag vor dem Abitur als „Feind der Republik“ vom Gymnasium relegiert. Die Mitschüler wurden aufgefordert, jeden Kontakt mit mir abzubrechen. Als ich die Aula der Magdeburger Humboldt-Schule verließ, wendeten sich die aufrechten unter den Lehrerinnen und Lehrern in hilflosem Schweigen ab.
In der christlichen Kirche war man hingegen so frei, das erdrückende Schweigen und den sich immer stärker bemerkbar machenden Zwang zur Lüge zu durchbrechen. Hier wagte man es, die Wahrheit des Evangeliums zu bezeugen, und zwar konkret in der politischen Situation so zu bezeugen, dass die befreiende Kraft dieser Wahrheit auch sehr weltlich, auch sehr politisch erfahrbar wurde. `Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen.´ (Joh 8,32) Dieser Satz des neuen Testamentes ist mir seitdem einer der liebsten.“
Wir sehen: es ist kein Zufall, dass das Verhältnis von Wahrheit und Freiheit den späteren theologischen Werde- und Gedankengang Eberhard Jüngels geprägt hat.
Wir sehen: die DDR hat wider ihren Willen die Theologie stark gefördert.
Und wir sehen: die Ausstrahlungskraft der Kirche hängt an der Bereitschaft, auch solche Wahrheiten zu verkünden, die politisch nicht opportun sind.
Für Jüngel kam nach dem Schulverweis nur noch ein einziger Studiengang in Betracht: evangelische Theologie an einer Kirchlichen Hochschule. 1953 begann er in Naumburg an der Saale seine theologische Ausbildung am Katechetischen Oberseminar. 1955 wechselte er an das Sprachenkonvikt, die Kirchliche Hochschule in Ostberlin. Nach einem halbwegs illegalen Semester an den Universitäten Zürich, Basel und Freiburg kehrt er zurück.
Nach dem Abschluss seines Studiums und seiner Dissertation war es wiederum die DDR, die 1961 sehr förderlich auf die Karriere Jüngels eingewirkt hat. Wieder in seinen eigenen Worten:
„Hochschullehrer bin ich buchstäblich über Nacht durch den Bau der Berliner Mauer geworden. Als Erich Honecker im Auftrag Walter Ulbrichts die Berliner Mauer hochziehen ließ, waren die in Ostberlin wohnenden Studenten der kirchlichen Hochschule von ihren in Westberlin residierenden Professoren abgeschnitten. Um den dadurch entstandenen Notstand zu beheben, berief mich der spätere Bischof Scharf in das theologische Lehramt.“
Die weiteren Karrierestufen sind bekannt. Ende 1966 wird er nach Zürich berufen. Ab 1969 lehrt Jüngel in Tübingen.
Statt nun die jeweils sehr spezifischen Einflüsse der ihn prägenden Lehrer von Ernst Fuchs über Heinrich Vogel und Gerhard Ebeling bis zu Karl Barth und Martin Heidegger zu entfalten, oder wahllos aus der schier endlosen Publikationsliste zu zitieren, müssen wir uns auf wenige Schlaglichter konzentrieren.
Bereits 1977 erschien sein wichtigstes Buch: „Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus.“ Gerade in den Atheisten und den „Gott-ist-tot“-Theoretikern im Gefolge Nietzsches erkennt der gelernte DDR-Bürger Jüngel wichtige Gesprächspartner. Ausgehend von sehr verbreiteten Entfremdungserfahrungen fragt Jüngel nach der Möglichkeit des Ganzwerdens und findet sie jenseits aller Selbsterlösungsphantasien. In einer prägnanten späteren Formulierung:
„Im Glauben kommt der Mensch (…) zu einer von ihm selbst weder durch Wissen noch durch Handeln zu gewinnenden Ganzheit seines Seins, die allein der Begegnung mit der ganz machenden ursprünglichen Einheit von Wahrheit und Freiheit in Gott sich verdankt. Glaubend findet der Mensch Ganzheit (…). Die Bibel nennt diese Ganzheit shalom“.
Neben seinen Aufsatz- und Predigtbänden muss vor allem noch sein „ökumenisches Hauptwerk“ genannt sein: „Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens“, 1998. Mitten in die aufkommende Debatte über die „gemeinsame Erklärung“ zur Rechtfertigung zwischen Rom und den protestantischen Kirchen kurz vor Ablauf des Jahrtausends im Sinne der Bereinigung von Lehrunterschieden betont Jüngel hier, welche protestantischen Positionen nicht verhandelbar sind. Er tut es nicht um ökumenische Gräben zu verfestigen. Er tut es um den Zusammenhang von Wahrheit und Freiheit erneut zu betonen. Jüngel wusste es wie kein zweiter:
„Im Zusammenhang des Christentums ist Theologie eine allen Glaubenden gemeinsam gestellte Aufgabe, die sich nur in Gestalt einer gegenseitigen Förderung des Verstehens der Glaubenswahrheit lösen lässt. Gegenseitige Förderung bedeutet aber immer auch gegenseitige Kritik.“
Zahllose Studierende waren Eberhard Jüngel für die Förderung durch Kritik sehr dankbar. Dass es gerade im kirchlichen Milieu immer auch Menschen gibt, die mit Kritik nicht umgehen können, und dementsprechend den Kritiker verteufeln, hat der Strahlkraft der Theologie des Jahrhunderttheologen Eberhard Jüngel keinen Abbruch tun können.
Am Dienstag der vergangenen Woche verstarb diese beeindruckende Persönlichkeit im Alter von 86 Jahren. Nie wieder wird seine Stimme einen ganzen Hörsaal in atemloses Staunen und tiefes Nachdenken versetzen.
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Wer sich mit der Theologie dieses großen Denkers beschäftigen möchte, kann vielleicht zunächst zu seinem letzten Aufsatzband greifen: Eberhard Jüngel: Ganz werden. Theologische Erörterungen V, Tübingen, Verlag Mohr-Siebeck.
Alternativ bietet sich eine sehr facettenreiche Einführung an, die im vergangenen Jahr erschienen ist: Die Theologie Eberhard Jüngels. Kontexte, Themen, Perspektiven. Herausgegeben von Dirk Evers und Malte Dominik Krüger, Tübingen 2020, Verlag Mohr-Siebeck. In 34 Beiträgen werden hier Jüngels Verhältnis zu den großen Theologen der Tradition von Thomas von Aquin bis Karl Barth, seine wichtigsten Themen und Thesen, und seine Wirkung und Wahrnehmung in verschiedenen Kontexten gewürdigt.
Wir danken dem Verlag Mohr-Siebeck für die freundliche Zurverfügungstellung der abgebildeten Fotos.