Der Terror wird im Westen spürbar werden

von Prof. Dr. Milad Karimi, stellvertretender Leiter des Zentrums für Islamische Theologie der Universität Münster, Leiter der internationalen Muhammad Iqbal-Forschungsstelle

Am 1.10.2014 hat Prof. Dr. Karimi an der Stadtakademie aus seiner Autobiographie „Osama schläft bei den Fischen. Warum ich gerne Muslim bin und wieso Marlon Brando viel damit zu tun hat“ gelesen – gerade aus denjenigen Passagen, die von seiner Flucht als Kind und Jugendlicher aus Afghanistan handeln. Online finden Sie wichtige Auszüge hier: https://www.cicero.de/kultur/islam-flucht-fluechtlinge-asylpolitik-milad-karimi-osama-schlaeft-bei-den-fischen/56428

Nachfolgender Text erschien am 21. August 2021 in der Zeitschrift Cicero  https://www.cicero.de/ Der Nachdruck erfolgt mit freundlichen Genehmigungen des Autors und von Cicero.

Der Terror wird im Westen spürbar werden
Die Taliban erobern Afghanistan – vor den Augen der internationalen Gemeinschaft. Was bedeutet dieser Feldzug des Bösen und welche Folgen hat unser Voyeurismus

Talibanherrschaft in Afghanistan – Der Terror wird im Westen spürbar werden
Der Himmel über Kabul ist blau, leuchtend blau. Die Stadt ist umgriffen von Bergen, deren Gipfel grau in den Himmel ragen. In meiner Kindheit gaben mir die Berge und der blaue, ferne Himmel inmitten des Bürgerkrieges Trost und Hoffnung, dass einmal der Krieg entschwinden werde. Doch nach 42 Jahren hält der Krieg in Afghanistan an, allein seine Protagonisten wechseln – seine Besetzer und Beschützer auch.

Der Blick in den blauen Himmel ist heute trostlos geworden. Im ganzen Land sind Menschen auf der Flucht, ziellos auf der Flucht, mittellos auf der Flucht, die deshalb meistens nirgendwo, irgendwo in Afghanistan selbst endet, nicht selten in einem freien Feld an einem Straßenrand. Die Menschen, die aus Afghanistan flüchten, mögen sich zunächst wie Helden vorkommen, weil sie überlebten, aber spätestens im Iran, in Pakistan, wo seit Jahrzehnten eine desaströse Afghanistanpolitik verfolgt wird, erkennen sie, dass sie zu den Elenden unserer Zeit gehören.

Anziehungspunkt für Terroristen aller Länder
Die Jagenden sind die Taliban. Sie sind keine neuen Protagonisten. Exakt vor 20 Jahren waren sie schon einmal die schrecklichen Herrscher Afghanistans, haben Musik und Fernsehen verboten, Mädchenschulen geschlossen, Frauenrechte überhaupt nicht beachtet, Bildung, Kunst, Kultur zugrunde gerichtet, die Buddha-Statuen in Zentralafghanistan zerstört. Aber allen voran haben sie Afghanistan zu einem Land verkommen lassen, das für militante Terroristen aller Länder, insbesondere des Terrornetzwerks Al-Qaida, zu einem Anziehungsort wurde.
Die Existenz der Taliban und deren afghanische Wirkungsstätte hat keine bloß regionale Bedeutung, vor der sich die Weltgemeinschaft mit bequemer Verachtung abwenden kann. Sie hat vielmehr eine globale Bewandtnis, die uns alle und überall betrifft, weil Terror grenzenlos ist. Denn fast exakt vor 20 Jahren, am 11. September 2001, verübte die Al-Qaida, koordiniert aus Afghanistan, Terroranschläge in den Vereinigten Staaten mit annähernd 3.000 Toten. Die USA, die zu keiner Zeit eine eindeutige Afghanistanpolitik erkennen ließen, reagierten darauf radikal und griffen unmittelbar Afghanistan an.

Keine flächendeckende Demokratisierung
Der Entschluss zum Krieg galt weniger der Befreiung des afghanischen Volkes aus den Fängen der Taliban als der Bekämpfung von al-Qaida. Der darauffolgende Nato-Einsatz sollte auf den Kampf gegen den Terror zielen, aber auch den Aufbau des Landes, die Ausbildung der afghanischen Armee und Sicherheitskräfte, zivilgesellschaftliche und demokratische Strukturen ermöglichen. Die Terrorbekämpfung als die eigentliche Zielsetzung der USA ist durchaus gelungen, aber die Taliban, die anfänglich vertrieben wurden, waren niemals ganz weg.
Immer wieder musste die afghanische Bevölkerung durch Terroranschläge an deren Existenz erinnert werden. Der Aufbau des Landes hatte aber von Anfang an keine überzeugende Struktur, keinen nachhaltigen Plan. Die Demokratisierung des Landes ist bei weitem nicht flächendeckend gelungen, Infrastrukturen, Alphabetisierungsmaßen, die Gleichstellung der Frauen und andere zentrale Elemente sind nicht abgeschlossen.
Die Regierungen in Afghanistan innerhalb der vergangenen 20 Jahren ähnelten stark ihren Vorgängern, wirkten wie Marionetten anderer Ideologien, korrupt, zuweilen inkompetent, mut- und saftlos, an der eigenen Bereicherung mehr interessiert als daran, die notwendige Sorge für die leiderfahrene Bevölkerung zu tragen. Hoffnungsmomente waren aber immer wieder da. Frauen waren sichtbar, an der Gestaltung des Landes integriert; partielle Projekte wie die Errichtung einzelner Mädchenschulen, Elektrisierungsprojekte und so weiter waren durchaus erfolgreich. Umso bestürzender ist der Zerfall all dieser Arbeit.
Der ehemalige US-Präsident Donald Trump schloss im Februar 2020 ein Friedensabkommen mit den Taliban auf Grundlage des Abzugs aller US- und Nato-Truppen bis zum 1. Mai 2021. Die Taliban sollten im Gegenzug die Gewalt reduzieren und in ein Friedensgespräch mit der afghanischen Regierung eintreten. Hier ging es nicht um Bedingungen, die notwendig wären, sondern um einen bedingungslosen Abzug, der am Ende unwürdig wie eine Flucht wirkte. Bei den Gesprächen und Vereinbarungen waren weder die afghanische Regierung noch die politische Opposition beteiligt. Das ist weder politisch noch humanitär haltbar.

Übereilter Aktionismus
Der aktuelle US-Präsident Joe Biden hat mit einer Verzögerung letztlich den Abzug vollzogen. Und die restlichen Staaten folgten diesem Schritt. Der gesamte Entscheidungsprozess wirkt wie ein übereilter Aktionismus. Die Ortskräfte in Afghanistan bangen um ihr Leben, weil ihnen nicht entschieden geholfen wurde. Das ist verantwortungslos und ein gravierendes politisches Versagen. Das Land wird in einer Phase verlassen und sich selbst überlassen, deren Herausforderungen es nicht gewachsen ist. Der Westen hat damit eine milliardenschwere Arbeit, aber auch seine Glaubwürdigkeit verloren.
Das afghanische Militär mit seinen rund 300.000 Soldaten (so die offiziellen Angaben, die augenscheinlich illusorisch waren) wurde kostspielig ausgebildet und aufgerüstet, aber sie haben sich kampflos den Taliban ergeben. Die rasche Übernahme Afghanistans scheint für niemanden absehbar gewesen zu sein. Das heißt aber auch, dass in Bezug auf Afghanistan wohl jegliche Expertise fehlt, dass dieser durchaus kalkulierbare Verlauf der Geschehnisse nicht bedacht wurde. Auch dies ist inakzeptabel.
Das ist aber auch ein Zeugnis dafür, dass die afghanische Regierung nicht von ihrem Militär unterstützt wurde. Dies wurde aber nicht jetzt plötzlich offenbart, sondern seit langem war der Unmut des Militärs gegenüber der afghanischen Regierung wahrnehmbar. Damit haben die Regierung und das Militär ihr Volk im Stich gelassen, aber verlässlich waren beide Größen von Anfang an nicht.
Es ist jedoch auch die Verantwortung des Westens, der Nato und insbesondere der USA, die ihren Einsatz in den vergangenen 20 Jahren selbst für nichtig erklärt haben und nun achselzuckend behaupten wollen, dass Afghanistan in der Verantwortung der Afghanen sei. Doch dies überzeugt zum einen deshalb nicht, weil die außenpolitische Einmischung des Westens in die politische Situation Afghanistans seit dem Ende der 1970er-Jahre massiv gewesen ist, da die geopolitische Lage Afghanistans im Kalten Krieg von großer Bedeutung war. Und zum anderen würde die völlige Lossagung von Afghanistan nichts als die Leugnung weltpolitischer Verantwortung bedeuten.

Militante Ideologen
Die Taliban übernehmen also nach wenigen Wochen nicht nur die wichtigsten Provinzen und Großstädte des Landes, sondern auch die Hauptstadt Kabul. Mit Kabul zerfällt aber die letzte Hoffnung, die in den vergangenen 20 Jahren gewachsen war. Menschen in Kabul sind erneut Gefangene in ihrem eigenen Land. Und die Taliban fangen mit ihrem Feldzug an, zerstören Häuser, bedrohen Frauen, verhaften Menschen und sind dabei, ihre Schreckensherrschaft über ganz Afghanistan zu etablieren und auszuweiten.
Sie sind nicht bloß eine extreme Strömung, sondern eine ideologische Bewegung, die denk- und pluralitätsfeindlich, frauenverachtend, jede Form der Mehrdeutigkeit, der religiösen Demut, der Offenheit und Freiheit verbietet. Die Taliban sind nicht einfach Muslime, die ihre Religion ideologisiert haben; vielmehr sind sie militante, fundamentalistische Ideologen, die ihre Ideologie islamisieren. Sie meinen mit Gewissheit zu wissen, was die Wahrheit ist, was Gott will und wie sich der Wille Gottes vollstrecken lässt. Diese hybride Hyperreligiosität verrät im Kern alle Tugenden der Religion.
Die Frage ist: Wessen Problem ist Afghanistan? Afghanen selbst leben in mehreren Generationen bereits im Krieg, in Armut und in Gefahr, dass jeder Tag der letzte Tag ihres Lebens sein könnte. Afghanistan wird das Problem aller bleiben, weil sich die internationale Gemeinschaft nicht von Afghanistan lossagen kann. Denn der Terror, der zunächst das afghanische Volk betrifft und die gesamte Region vergiften wird, wird dann erneut global, aber vor allem im Westen spürbar werden. Wir schauen zu, wie Kabul zerfällt, sehen aber daran den Zerfall an Vertrauen in die Idee Europas, in Wertevorstellungen wie Demokratie und Menschenrechte, die mit unserem Voyeurismus an Wert, an Glaubwürdigkeit verlieren. Denn der Zerfall Afghanistans bedeutet allem voran eine moralische, eine humanitäre Katastrophe.

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