Im Gebirge einen Tunnel zu bauen, ist ein anspruchsvolles Unternehmen. Ein solches Projekt muss gut überlegt und genau geplant sein. Die Umsetzung dauert einen längeren Zeitraum, meist mehrere Jahre. In der Regel fängt man an zwei Stellen mit dem Tunnelbau an, dort, wo der Tunnel beginnt und dort, wo er endet. Zwei Teams dringen mit schwerem Gerät immer weiter in den Berg vor. Jede Menge Gestein muss entfernt und heraustransportiert werden. Dabei kommen sich die Teams allmählich immer näher. Nach langer Zeit kommt dann der große Moment. Zwischen den beiden Tunnelröhren liegt nur noch eine dünne Wand aus Stein, die herausgeschlagen oder -gebohrt werden muss. Und dann treffen sich die beiden Teams – sie haben es geschafft. Die größten Mühen liegen hinter ihnen. Dieser Moment ist bis zum heutigen Tag ein ganz besonderes Ereignis, etwas, worüber die Medien regelmäßig berichten. Ein Tunneldurchstich ist etwas, was gefeiert werden muss.
Von einem solchen Tunneldurchstich in Jerusalem berichtet eine alte Inschrift, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts am südlichen Ausgang des Siloah-Tunnels gefunden wurde.
Der 553 m lange Tunnel, der wahrscheinlich um das Jahr 700 v. Chr. unter König Hiskia fertig gestellt wurde, beginnt an der Gihon-Quelle am Ostabhang der Davidstadt, also des Südosthügels südlich des Felsendoms. Er führt das Wasser in einem kurvigen Verlauf unterhalb der Davidstadt nach Süden zum Siloah-Teich, so dass dort die Wasserversorgung ebenfalls sichergestellt war. Die Inschrift, deren Original heute im Antikenmuseum in Istanbul besichtigt werden kann, zeigt, dass auch damals der Tunneldurchstich ein bewegendes Ereignis war (aus: Manfred Weippert: Historisches Textbuch zum Alten Testament, Göttingen 2010, S. 329):
„[Dies ist] der Durchstich. Und mit dem Durchstich verhielt es sich so: Als noch die Mineure die Hacke schw[angen], einer gegen den anderen, und als noch drei Ellen durchzubrechen waren, da konnte man hören, wie einer dem anderen zurief. Denn es war ein Riss (?) im Felsen auf der rechten und auf [der lin]ken Seite. Und am Tag des Durchstichs schlugen die Mineure einer dem anderen entgegen, Hacke auf Hacke. Da floss das Wasser von der Quelle zum Teich auf (einer Länge von) tausendzweihundert Ellen. Und hu[nd]ert Ellen betrug die Höhe des Felsens über den Köpfen der Mineure.“
Der Bau des Tunnels, ganz ohne das heute eingesetzte schwere Gerät, war eine einmalige technische Leistung. Alles war gewissermaßen Handarbeit; man arbeitete – wie der Text erkennen lässt – mit Hacken. Die Mühen müssen unvorstellbar groß gewesen sein. Insofern muss die Freude, als die beiden Teams sich gegenseitig hörten, noch größer gewesen sein, als das heute bei einem Tunneldurchstich der Fall ist. Die alte Inschrift macht deutlich: Ein Tunneldurchstich ist ein einmaliger, ja fast magischer Moment. Endlich ist es geschafft, die Plackerei hat ein Ende. Diesen besonderen Moment wollte jemand für die Nachwelt festhalten und verfasste daher am südlichen Tunnelausgang diese Inschrift. Wer es genau gewesen ist, ist schwer zu sagen. Eine ganz offizielle Inschrift wird es nicht gewesen sein, weil der Name des Königs Hiskia, der den Bau sicher angeordnet hatte, nicht erwähnt wird. Trotzdem gibt die Inschrift einen kleinen Einblick in das Glück der Tunnelbauer. Sie hält einen besonderen Moment der Geschichte des alten Israel fest. Und sie zeigt dabei gleichzeitig, wie wichtig und informativ derartige Inschriften sein können, wenn man versucht, Einblicke in die Geschichte des alten Israel zu bekommen. Die Archäologie war und ist also immer wieder für Überraschungen gut.