Der Zug war pünktlich

Dr. Uwe Gerrens
von Dr. Uwe Gerrens

Die Bahn behauptet, 74,9 % ihrer Züge im Fernverkehr seien pünktlich. Warum gehört meiner immer zu den 25,1 % unpünktlichen? Irgendetwas stimmt da nicht. Entweder ich irre mich oder die Bahn-Statistik. Seit langem bewegt mich diese Frage.  

Quelle: Dr. Uwe Gerrens

Die Philosophen würden sich Klärung von einer Definition erhoffen: Was ist Verspätung? Unpünktlichkeit ist ein relativer Begriff, sinnvoll nur in Bezug auf einen Maßstab, eine gesellschaftlich definierte Norm („akademisches Viertelstündchen“), individuelle Gewohnheiten („mach ich immer so“) oder berufsbedingte Perspektiven („in Bezug zur Ewigkeit“). Vielleicht arbeitet die Bahn mit einem anderen Verständnis von Verspätung als ich selbst?
Das Problem könnte bei mir selbst liegen. Psychologisch-existentiell stellt sich die Frage nach der Validität meines eigenen Erinnerungsvermögens. Vielleicht erinnere ich durch die die Bahn verursachte Verspätungen besser als die Bahnfahrten, bei denen alles glatt verlief? Vielleicht bin ich ein Pechvogel, der Verspätungen bei der Bahn magisch anzieht? Ich lebe im Kontext einer Gesellschaft, in der viel auf die Bahn geschimpft wird. Vielleicht verhält sich meine Erinnerung wie ein Schaf in der Herde, eine Art Erinnerungsherdentrieb? Ich bin Bahnvielfahrer. Beeinflusst das meine Wahrnehmung? Ist es Zufall, dass die Züge in der Schweiz, mit denen ich gefahren bin (trotz schwierigen Geländes) oder in Norwegen (im Winter bei Schneesturm) oder Dampfzüge in Indien (entgegen meinen Vorurteilen) auf die Minute pünktlich fuhren? Warum haben englische Züge in meiner Erinnerung oft Verspätung?

Die Frage könnte durch Statistik geklärt werden. Allerdings sagt ein Winston Churchill zugeschriebenes Bonmot: „Traue nur der Statistik, die du selbst gefälscht hast“. Ein diffuses Misstrauen gegenüber der Bahn-Statistik beschlich mich seit langem. Beim letzten Kongress des Chaos Computer Clubs ist der „Data Scientist“ David Kriesel der Frage nachgegangen und hat Ende letzten Jahres seine Erkenntnisse unter dem Gejohle von 5000 Zuhörerinnen und Zuhörern vorgetragen.

Quelle: Dr. Uwe Gerrens

25 Millionen Bahnstopps im Jahr kann man nicht mal eben in den Computer eintippen. Noch mehr Daten erhält man, wenn über den Zeitraum eines Jahres alle zehn Minuten sämtliche Verspätungen sämtlicher Züge an sämtlichen Haltestellen über die über Schnittstellen der Bahn-App abfragt. Kriesel hat seine Daten vollautomatisch über den Zeitraum eines Jahres gesammelt und hinterher durch die Mühlen der Statistik gedreht, ganz große Computertechnik, und schließlich kam er zu einem Ergebnis auf die Frage, die mich seit langem beschäftigt:

Stimmt die Statistik der Bahn? Kriesels Antwort: Im Prinzip ja, aber.

Entscheidend sind die Definitionen, die zwar nicht geheim gehalten werden, die die Bahn aber auch nicht vor sich herträgt: Ein Zug gilt der Bahn als verspätet, wenn er mindestens 6 Minuten zu spät kommt, aber nicht ausfällt. Für mich persönlich sind weniger als 6 Minuten im Fernverkehr völlig im Rahmen und werden ohnehin als Reserve eingeplant. An sich habe ich da kein Problem. Allerdings stört es mich, wenn ich wegen einiger Minuten den Anschlusszug verpasse und der erst eine Stunde später kommt oder zwei wie auf der Fahrt zu meiner Schwiegermutter. Nicht o.k. ist es für mich, dass ausgefallene Züge nicht als verspätet gezählt werden, denn für mich heißt das, dass ich den völlig überfüllten nächsten Zug nehmen muss, üblicherweise eine Stunde später, und dieser möglicherweise beim Ein- und Aussteigen wegen „erhöhten Fahrgastaufkommens“ weitere Minuten verliert, schlecht für meinen Anschlusszug. So kann es leicht geschehen, dass ich mein Ziel mit zwei Stunden Verspätung erreiche, obwohl die Bahn-Statistik nur einige Minuten ausweist. Dabei geht alles mit rechten Dingen zu. Kein Statistiker hat offensichtlich geschummelt.

Warum fällt etwa jeder zwanzigste ICE-Stopp aus? Kriesel erläutert das anhand der von ihm nach bekannten Persönlichkeiten genannten Scheuer/Pofalla-Wende. Wenn sich für die Bahn abzeichnet, dass ein ICE wegen großer Verspätung auch die Rückfahrt nicht mehr pünktlich antreten kann, beendet die Bahn die Fahrt eine, zwei oder drei Stationen vor dem Endbahnhof. Die Restrückfahrt beginnt fahrplangemäß pünktlich, die Statistik sieht leidlich gut aus, denn jetzt ist wieder alles im Takt. Bloß stehen jetzt auf zwei, drei oder vier Bahnsteigen Fahrgäste herum, die sehen müssen, wo sie bleiben, die ihr Ziel mit erheblicher Verzögerung erreichen, wenn überhaupt, aber in der Statistik nicht als verspätet auftauchen: Ihr Zug ist ja ausgefallen.

Nicht alle Menschen fürchten Verspätungen, manche sehnen sie auch herbei. Meine Tochter muss bei der Fahrt von ihrem Studienort Tübingen, zu ihren Eltern in Wuppertal, in Stuttgart und Köln umsteigen. Plant sie mit besonders knappen Umstiegszeiten, verpasst sie ihre Anschlusszüge. Zwar erreicht sie ihre Eltern mit ein oder zwei Stunden Verspätung, doch lässt sie sich hinterher über das Fahrgastrechte-Formular einen Teil der Fahrkosten erstatten. Wer Geld sparen will, kann also Verspätungen produktiv nutzen, und meine Tochter hat es darin zu beachtlicher  Kompetenz gebracht.  

Kriesel bietet jetzt eine Liste mit über 500 Zügen an bestimmten Wochentagen und bestimmter Uhrzeit an, die in mehr als der Hälfte der Fälle mehr als zwanzig Minuten Verspätung hatten. Er empfiehlt, ein Sparticket auf diese Züge zu buchen. Wenn die erhoffte Verspätung eintritt, kann man es kostenfrei als Flexi-Ticket nutzen. Er übernimmt allerdings keine Garantie dafür, dass der Zug nicht doch pünktlich sein könnte. Das wäre ärgerlich, denn dann stünde man vor der Wahl, die Fahrt anzutreten oder das Ticket unverbraucht verfallen zu lassen. Kriesels Analyse zufolge verspäten die Züge sich regional sehr unterschiedlich. In Ostdeutschland sind sie weitgehend pünktlich. Dies gilt auch für Berlin. Besonders schlecht sieht es im Rheinland und im Ruhrgebiet aus, also da, wo viele Menschen wohnen. Köln ist Spitzenreiter, daneben nur noch Hamburg. Ich wohne in Wuppertal und fahre viel mit einem ICE, der von Köln kommt bis nach Hamburg und wieder zurück. ICEs nach Hamburg fallen in Wuppertal öfters aus, ICEs von Hamburg enden manchmal in Hamm. Jetzt weiss ich, warum.

Irre ich mich oder irrt die Bahn-Statistik? Weder – noch. Die Bahn hält was sie nach ihren eigenen Definitionen verspricht. Dass ich mich so sehr viel öfter verspäte, liegt nicht an der Bahn. Ich wohne nur falsch – und meine Schwiegermutter auch. Wer nicht glauben will, dass ein einstündiger Vortrag über Analysis und Statistik überaus unterhaltsam und kurzweilig sein kann, lasse sich hier vom Gegenteil überzeugen.

 https://media.ccc.de/v/36c3-10652-bahnmining_-_punktlichkeit_ist_eine_zier#t=0

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