Texte aus dem Alten Orient faszinieren mich, immer wieder. Meist sind sie zwischen drei- und viertausend Jahre alt. Manchmal sogar noch älter. Gefunden wurden sie bei Ausgrabungen im Irak oder in Syrien. Sie stammen also von Babyloniern, Assyrern, Aramäern und anderen. Sie geben tiefe Einblicke in die damaligen Gesellschaften: Wie waren die Menschen organisiert? Wie funktionierte die Wirtschaft? Was hat die Menschen beschäftigt? Wie sah ihre Religion aus? Was waren ihre Hoffnungen und Ängste? Das ist auch deshalb so interessant, weil in den altorientalischen städtischen Gesellschaften vieles quasi erfunden und entdeckt worden ist, was Auswirkungen hat bis zum heutigen Tag. So ist städtisches Leben mit seinen Differenzierungen und der konsequenten Arbeitsteilung etwas, was wir dem Alten Orient zu verdanken haben.
Lohnend zu lesen sind besonders die Mythen. Sie führen in eine Welt, die ganz anders zu sein scheint als unsere. Bei näherem Hinsehen werden aber hochaktuelle Probleme thematisiert. So zeigt sich, dass die Menschen im Alten Orient eine große Angst hatten, dass die Ordnung, in der sie lebten, zusammenbricht und dass das Chaos stattdessen die Oberhand gewinnt. Damit es nicht dazu kommt, war es die wichtigste Aufgabe des Königs, das Chaos abzuwehren. Er musste diesen Kampf gegen das Chaos führen, mit vollem Einsatz. Die Götter hatten das schon bei der Schöpfung getan. Aber das Chaos kann schließlich jederzeit zurückkommen. Und dann ist das Leben gefährdet. Wohl der altorientalischen Stadt, die einen guten König an der Spitze hatte.
Viel scheint sich bei den Hoffnungen und Ängsten der Menschen in drei- oder viertausend Jahren nicht geändert zu haben. Auch in der Corona-Pandemie ist die Angst vor dem Chaos überall zu entdecken. Zunächst die Angst, dass das Virus einen selbst oder nahe Angehörige trifft und damit die persönliche Zukunft auf dem Spiel steht. Dann die Angst, die Krankenhäuser könnten überlastet sein und es könnte zu chaotischen Situationen kommen, so wie in Norditalien oder New York. Die Angst, die Wirtschaft könnte ins Bodenlose abstürzen, was hohe Arbeitslosigkeit und große Armut mit sich bringen würde. Die Angst, dass die Strukturen, in denen wir alle leben, zerstört werden. Die Angst, dass das Chaos mit dem Virus hereinbricht.
Glücklicherweise haben wir in Deutschland eine Regierung, die die Herausforderung angenommen und sehr umsichtig und weitsichtig in der Krise agiert hat. Bis jetzt ist das Chaos ausgeblieben. Das ist nicht selbstverständlich, wenn man einen Blick auf manche anderen Staaten in der Welt wirft. Aber die Angst bleibt. Und in die Zukunft schauen kann niemand. Vor dem Chaos ist man nie sicher. Im Alten Orient war es letztlich die Aufgabe der Götter, dem Chaos zu wehren und die Welt zu erhalten. Man wusste, dass auch Könige nur begrenzte Macht haben. Selbst wenn sie gute Regenten waren. Letztlich liegt nicht alles in der Hand der Menschen.
Ich denke, dass auch wir in dieser Krise anerkennen müssen, dass wir die Zukunft nicht in der Hand haben, dass die Gefahr vor dem Chaos bleibt. Aber ich hoffe und glaube, dass Gott, der zu seiner Schöpfung steht, sie nicht im Chaos versinken lassen wird. Dieser Glaube kann uns helfen, mit Zuversicht in die Zukunft zu gehen und mit Umsicht und Weitsicht das zu tun, was jetzt in Zeiten der Corona-Pandemie notwendig ist.