Im Jahre 1979 veröffentlichte Peter Dickinson sein bahnbrechendes Werk: The Flight of Dragons (deutsch: Peter Dickinson: Das grosse Buch der Drachen oder „Die fliegenden Ungetüme“; mit Illustrationen von Wayne Anderson; Oldenburg (Stalling Verlag) 1981). Dieses Werk gehört gerade in Deutschland in die Hand eines jeden ernst zu nehmenden Mediavisten, Germanisten und aller anderen, denen die deutsche Sagenwelt und ihre tiefere Wahrheit am Herzen liegt. Denn in diesem Buch weist Dickinson nach, dass es nicht nur Drachen gegeben hat, wie sie fliegen und Feuer speien konnten, warum sie Goldschätze horteten und Jungfrauen verzehrten, sondern er legt auch schlüssig und überzeugend dar, warum wir keine archäologischen Funde von Drachenskeletten haben finden können, sondern uns scharfsinnig auf den reichen Schatz der Überlieferung verlassen müssen. Leider ist das alles weitgehend unbekannt. Derenthalben möchte ich es Ihnen hier vorstellen — auch um denjenigen einen Strich durch die Rechnung zu machen, die an der Verheimlichung dieser Erkenntnisse beteiligt waren.
Selbstverständlich kann ich dieses meisterhafte, verborgene Werk hier nicht in seiner ganzen Umfänglichkeit darstellen, aber meine Hinweise werden genügen, um diejenigen unter Ihnen, die des eigenen, unverdorbenen Denkens fähig sind, die weiteren Schlüsse zu ermöglichen. Im Kern beruht seine Erkenntnis auf einer einfachen Stoffwechselformel:
Calcium und Salzsäure verbinden sich und es entsteht Wasserstoff und Calciumchlorid,
Ca(s) + 2 HCl(aq) wird zu H2 + CaCl2(aq)
Der Drache war riesig, — wie die Sagen es bezeugen — wie sollte er sich bewegen? Es war der Wasserstoff, der es dem Drachen erlaubte, sich in die Lüfte zu erheben, wie einstmals auch die Zeppeline. Das Calciumchlorid stellte den stinkenden Drachenatem dar, welcher die Feinde abschreckte. Aus der Salzsäure wurde so durch die Weisheit der Natur die Grundlage der Drachen Erfolge. Allein, dies hatte seinen Preis: Da ununterbrochen Wasserstoff und Calciumchlorid produziert wurde, musste der Drache immer wieder Wasserstoff ablassen — ohne dabei zu explodieren. Wieder aber diente es seiner Stärke: Berichten uns nicht die Sagen vom Feuerspeien? Genau: Um den Wasserstoff abzulassen, entzündete der Drache ihn im Maul und spie seine furchterregende Feuerlohe. Das Calciumchlorid aber ließ er unter sich. In seiner Höhle drohte er in stinkigem Morast zu vergehen. Hier nun erklären sich die Drachenhorte: Gold ist unempfindlich gegen allerlei chemische Verunreinigung. Auf seinem Bett aus Gold konnte der Drache bequem lagern, denn Gold gehört ja zu den weichen Metallen. Die von ihm ausgeschiedenen Chemikalien aber sanken durch das Gold hinweg und störten hinfort nicht mehr. Welch ein wundervolles Beispiel von ökologischer Nische und kluger Vorsehung.
Allein, dies kam mit einer Schwäche: des Drachen Haut und Knochen durften nicht zu schwer sein, wenn er fliegen wollte, denn seine Flügel waren nur groß genug zum Antrieb und Steuern, nicht um abzuheben. Die Knochen waren hohl, die Haut war dünn, der Drache immer in Gefahr. Diese Schwäche führte dazu, dass er schwache Beute bevorzugte, z.B. Edelfräulein, noch dazu gefesselt, die sich nicht wehren konnten und günstigstenfalls noch mit Gold und Schmuck behängt waren. Jedoch, es kamen diese oft mit Rittern, deren Schwerter in der Lage waren, den Drachen tödlich zu verletzen, wenn es ihm nicht gelang, sie vorher zu rösten. Man kann sagen, die bessere Waffentechnik des Mittelalters war dann der Drachen Ende — eine weitere Spezies, die dem Dodo gleich vom Menschen ausgerottet wurde.
Warum aber haben wir keine Artefakte, ja nicht einmal die Spur von Überbleibseln von diesen Monstern, werden Sie nun vielleicht fragen. Wieder ist es die Salzsäure des Drachen, die die Antwort liefert: Stirbt der Dache, bricht der Stoffwechsel zusammen und die Salzsäure zersetzt alles, was von ihm übrigblieb. Seine gehorteten Schätze, sofern sie nicht von den Rittern geplündert wurden, harren wohl noch heute der Entdeckung in Höhen überall auf der Welt. Diese Schätze dürften auch der Grund sein, warum die Erkenntnisse von Dickinson unterdrückt wurden: Wahrscheinlich steckt eine der großen Organisationen dahinter, die den Reichtum der Drachen nicht teilen wollen.
Wenn Sie bis hierher durchgehalten haben, lade ich Sie zum erneuten Nachdenken ein. Es ist Konsens der historischen Forschung, dass es Drachen nicht gab — zumindest nicht so, wie sie in den Sagen und Märchen vieler Kulturen beschrieben werden. Es bedarf keiner Verschwörung, um das Wissen über Drachen geheim zu halten, denn wir wissen nichts Wissenschaftliches über Drachen. Dickinsons Buch soll auch kein Beitrag zu irgendeiner Forschung sein. Er war Redakteur einer Satirezeitschrfit, verfasste Krimis, Science Fiction und Kinderbücher (https://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Dickinson_(Schriftsteller)). Was das Buch von Dickinson so interessant macht, ist sein Gedankenspiel und seine Kombination von naturwissenschaftlichen Ideen und literarischen Zeugnissen. Beides phantasievoll zu verbinden, eröffnet dem Denken neue Räume und regt den Geist an. Allein das macht es lesenswert und unterhaltsam.
Und gleichzeitig können wir aus Dickinsons Buch eine Menge über Verschwörungsphantasien lernen — nicht nur wegen der „Hinweise“, die ich in den Text eingestreut habe. Der Ansatzpunkt und das ganze Buch von Dickinson nutzt die Phantasie und unterfüttert sie mit „Belegen“. Diese „Belege“ sind Ideen, die sich auf Beobachtungen stützen und diese Beobachtungen führen immer weiter in die Ideen hinein. Wiewohl er dabei zahllose Sagen und Mythen anführt und darstellt, sie alle passen zu seinen Ideen. Er diskutiert nicht andere Stellen, die ihm widersprechen könnten. Und er lässt eben Raum für die eigenen Gedanken und Phantasien. Sie können sich in alle Drachensagen vertiefen und selbst weiter spekulieren. Das macht das Buch reizvoll und das ist auch wichtig in allen Verschwörungsphantasien: Diejenigen, die sie hören oder lesen werden selbst zu Autor:innen gemacht, ihre Mitwirkung ist gefragt.
Zu einer Verschwörungsphantasie wird eine phantasievolle Idee aber dann, wenn sie dem Bedürfnis nach Weltverstehen den Gedanken hinzufügt: Jemand tut etwas, um mir zu schaden. Ich kann es durchschauen, aber nicht ändern. Ich bin Opfer, aber wissendes Opfer. Ich bin nicht verantwortlich für meine Situation, aber ich weiß, wer dahintersteckt: Donald Duck, die Illuminaten, die Templer … — Niemand wird eine Drachen-Verschwörung anzetteln, das Bedrohungsszenario ist zu absurd. Ganz anders wäre es, wenn ich antisemitische Bilder ins Spiel gebracht hätte. Fast alle Verschwörungstheorien haben einen antisemitischen Anteil und dieser macht sie anschlussfähig an andere Verschwörungstheorien und dadurch noch virulenter.
Verschwörungstheorien sind so alt, wie die Sagen von Drachen. Sie funktionieren auf immer ähnliche Weisen, sie sprechen immer die gleichen Bedürfnisse und Interessen bei Menschen an. Wie dies funktioniert, warum es funktioniert, was es da so alles zu wissen gibt, dem gehen wir in der Akademie am Morgen (Kurs 123 und 124) nach — falls Sie Interesse haben.
Sehr schöner Beitrag, und wenn man genügend Humor und Verständnis für Ironie mitbringt, ist direkt eine in sich geschlossene und überzeugende Theorie erkennbar. Als wissenschaftlich verbildeter Chemiker muss ich allerdings auf einen formalen Schwachpunkt hinweisen: Das chemische Elemenr Ca nennt sich nicht Calium, sondern Calcium, dieser kleine Fehler könnte verblendete Wissenschaftsgläubige zu grundlegender Kritik einladen, und das wollen wir doch lieber vermeiden. Gleichzeitig wird der wache Geist zu weiteren Überlegungen angeregt: Reines Calciumchlorid stinkt nicht, es müssen noch Verunreinigungen hinzukommen. Ich vermute dort stinkende Schwefelverbindungen, aber diese Hypothese muss noch durch Forschung belegt werden.
Sehr geehrter Herr Rolfs, morgen kümmere ich mich um den Calciummangel des Beitrages. Im Blick auf die zur Geruchsentwicklung fehlenden Verunreinigungen halte ich Ihre Schwefelverbindungs-Hypothese für vielversprechend. Vielen Dank für Ihr genaues Lesen.