Die Geschichte der Bibel

Ein Gastbeitrag von Alban Sänger

Rezension des Buches: John Barton: Die Geschichte der Bibel. Von den Ursprüngen bis in die Gegenwart, Stuttgart (J.G. Cotta’sche Buchhandlung) 2020

Der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer hat in der Herder Korrespondenz 9/2019 die „Selbstbezogenheit“ der deutschen Theologie und Kirche kritisiert. Daraus einen Ausgang zu finden – dazu könnte das Buch von John Barton einem deutschen Leser den Weg weisen; es könnte vielleicht sogar gleichsam physiotherapeutisch die Versteifungen in der aktuellen Diskussion um die Zukunft der kath. Kirche (in Deutschland und anderswo) lockern.

Foto: Verlag Klett-Cotta.jpeg

Zum Beispiel arbeitet zur Frage der Ämter der anglikanische Bibelwissenschaftler, der seine „große Nähe zur lutherischen Theologie“ bekennt (497), heraus, dass keine Kirchenordnung gleich welcher christlichen Kirche „von Gott gebilligt (ist) – sofern eine Textstelle im Neuen Testament als Ausdruck solcher Billigung gelten soll“ (533). Versucht man die Ämterstruktur von Paulus her zu begründen, dann gerät man in Teufels Küche, denn Paulus „nennt eine verwirrende Vielfalt von Formen kirchlichen Dienstes, die den Rängen der späteren dreistufigen „Ordnungen“ überhaupt nicht zugeordnet werden können“ (532).

Dieser Sachverhalt verweist darauf, dass sich im Laufe der Zeit kirchliche Strukturen herausgebildet haben, die sich ebensowenig eindeutig auf biblische Quellen berufen können wie auch bestimmte Glaubensinhalte wie z.B. die Lehre von der Dreifaltigkeit (vgl. 529). Zwischen kirchlicher Lehre und der Hl. Schrift gibt es nach Ansicht des Autors „bestenfalls eine ungefähre Übereinstimmung“ (406). Nachzuweisen, wie es dazu gekommen ist, hat sich der Autor zur Aufgabe gemacht (28). Deshalb hat er seiner Originalveröffentlichung (2019) den Untertitel „The book and its faiths“ gegeben, was der deutsche Untertitel „Von den Ursprüngen bis in die Gegenwart“ verschweigt. Auch der deutsche Haupttitel „Die Geschichte der Bibel“ wird der Intention des Autors nicht gerecht, insofern er mehr behauptet als der Verfasser im Sinne hatte, nämlich „A History of the Bible“ zu schreiben. Seine Geschichte der Bibel ist das Ergebnis eines langen Forscherlebens im Netzwerk vor allem der englischsprachigen Bibelforscher, die in der Tradition der historisch-kritischen Auseinandersetzung mit biblischen Texten gearbeitet haben.

Diese Herangehensweise setzt die Zugehörigkeit eines Lesers zu einer sich auf die Bibel berufenden Glaubensgemeinschaft, sei es einer christlichen sei es einer jüdischen, nicht voraus. Ein solcher nicht-religiöser Leser wird aber Bartons History ebenso mit Gewinn lesen, falls er sich für die Bibel „als kulturprägendes Werk“ (19ff) interessiert, wie religiöse Leser, denen die Augen geöffnet werden, dass die Bewertung der in ihren Bibeln versammelten Texte als heilige Texte zumindest fragwürdig ist, wenn nicht gar wie vom Autor abgelehnt werden muss:

„Die Bibel ist für das Judentum wie für das Christentum von zentraler Bedeutung, aber sie ist kein heiliger Text, aus dem sich irgendwie ganze religiöse Systeme herauslesen lassen“ (18).

Die Heiligkeit der biblischen Texte wird gewöhnlich mit der Annahme einer göttlichen Inspiration begründet, eine Auffassung, die sowohl auf protestantischer wie auf katholischer Seite mehr oder weniger stark vertreten wurde/wird. U.a. verweist der Autor auf den lutherischen Theologen Johann Andreas Quenstedt (1617 – 1688), für den „die biblischen Verfasser nur »die Feder und die Tinte« lieferten“ (601), und zitiert aus der Vorrede zur King-James-Bibel:

„Und welche Wunder: Der Ursprung [der Bibel] kommt vom Himmel, nicht von der Erde; der Verfasser ist Gott, nicht Mensch; der Diktierende der Heilige Geist, nicht die Klugheit der Apostel oder Propheten; die Schreiber vom Mutterleib an geheiligt und bekleidet mit einem wesentlichen Anteil am Geist Gottes“ (602).

Diese Auffassung bekräftigte ausdrücklich auch die Päpstliche Bibelkommission in ihrem 2014 veröffentlichen Dokument „Inspiration und Wahrheit der Heiligen Schrift“, in dem den menschlichen Verfassern „eine besondere göttliche Qualität zuerkannt“ wird (§ 137 zit. auf S. 601).

Dagegen wendet der Autor ein, dass der Begriff der Inspiration „mehr Probleme schafft als löst“ (603); denn „wenn man die Bibel als dogmatisch verbindlich, womöglich sogar als göttlich inspiriert versteht, bereitet ihre unsichere Textgrundlage Probleme“ (604). Um aus dem Dilemma zwischen menschlicher Verfasserschaft und göttlicher Eingebung heraus zu kommen, deutet der Autor an, dass man zur Anerkennung der „Autorität“ der Bibel nicht zwingend das Theorem der Inspiration benötige (603).

Hierfür könnte der Umgang des Judentums mit seiner Bibel Vorbild sein, insofern als dass die jeweilige Autorität der Schriften gewichtet wird und sie selbst nicht als inspiriert gelten, sondern nur „bestimmte Menschen“, „vor allem die Propheten einschließlich Mose“ (600). Wären die einmal aufgeschriebenen Worte sakrosankt gewesen, hätte es vermutlich nicht die verwickelte Geschichte der redaktionellen Bearbeitungen und den mühsamen Prozess der Kanonisierung gegeben.

Was man heutzutage darüber weiss, schildert der Autor kenntnis- und detailreich im Teil I seines Buches, bevor er sich ebenso umfassend dem Zustandekommen des Neuen Testamentes im Teil II widmet. Im Teil III akzentuiert er dann die philologische Problematik der Genese der Textkorpora.

Da die biblischen Texte ja nicht nur Archivmaterial, sondern in das religiöse Leben von jüdischen und christlichen Gemeinschaften eingebunden, ja sogar Lebensquell sind, ist es selbstverständlich unerlässlich, dass der Autor im Teil IV unter dem Titel „Der Sinn der Bibel“ die Rezeptions- bzw. Interpretationsgeschichte gemäß dem heutigen Forschungsstand referiert. Ein besonderes Augenmerk musste der Autor auf die Geschichte der Übersetzungen und Editionen legen, weil sich ja mit der weltweiten Verbreitung der jüdischen und christlichen Kultur das Übersetzungsproblem zwangsläufig stellte (Teil IV, Kap. 18).

Ein deutschsprachiger Leser mag vermissen, dass Barton die deutschsprachige Bibelwissenschaft vielleicht nicht im angemessenen Umfang in seine Darstellung einbezogen hat. Auch mögen die Anhänger der kanonischen Bibelexegese wie z.B. die Liebhaber der Jesus-Trilogie von J. Ratzinger/Benedikt XVI. die konsequente Verpflichtung des Autors auf die historisch-kritische Methode als zu profan kritisieren und Anstoß nehmen an dem Anspruch des Autors, den er allgemein für die kritische Bibelwissenschaft formuliert, nämlich „die Bibel aus der Kontrolle religiöser Autoritäten zu befreien“ und einen „Kontrapunkt“ zum „dogmatischem Glauben“ zu setzen (612). Doch die, die unvoreingenommen sich mit dem Autor auf den Weg durch die Bibel und die Geschichte ihres Werdens machen, werden einen Grundsatz in den Neununddreißig Artikeln der Kirche von England (1563) entdecken oder wiederentdecken:

»Die Heilige Schrift enthält alles, was zum Heil notwendig ist.«,

was nicht besagt, „dass alles in der Bibel zum Heil notwendig ist“ (613). John Barton hat mit seinem Werk eine Art „Summa“ der Geschichte bibelwissen-schaftlicher Forschung vorgelegt. Seines Umfangs und seines Wissensreichtums wegen erfordert es vom Leser eine nicht unerhebliche Leseanstrengung, die erleichtert wird durch die übersichtliche Gliederung und den klaren Schreibstil. Und wenn man all das ausgebreitete Wissen am Ende der Lektüre noch nicht ins Gedächtnis aufgenommen hat, kann man es als Nachschlagewerk immer wieder von Neuem zu Rate ziehen. Dabei hilft auch das Orte-, Personen- und Sachregister am Ende des Buches, wobei aber anzumerken ist, dass es noch differenzierter hätte ausfallen können, indem wichtige theologische Begriffe wie z.B. der der Trinität oder Gnade verzeichnet worden wären. Diese Kritik ist aber unwesentlich im Verhältnis zum Gesamtwerk, das im Observer als „ein magistrales, wundervoll anregendes Meisterwerk“ (Umschlagtext) zurecht gelobt wurde.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert