Die Pest – Und die Frage, was wann dran ist

Ein Gastbeitrag von Elke Nußbaum

Während Rieux den Freudenschreien lauschte, die aus der Stadt empordrangen, erinnerte er sich nämlich daran, dass diese Fröhlichkeit ständig bedroht war. Denn er wusste, was dieser frohen Menge unbekannt war und was in den Büchern zu lesen steht: dass der Pestbazillus niemals ausstirbt oder verschwindet, sondern jahrzehntelang in den Möbeln, und der Wäsche schlummern kann, dass er in den Zimmern, den Keller, den Koffern, den Taschentüchern und den Bündeln alter Papiere geduldig wartet, und dass vielleicht der Tag kommen wird, an dem die Pest zum Unglück und zur Belehrung der Menschen ihre Ratten wecken und erneut aussenden wird, damit sie in einer glücklichen Stadt sterben.

Diese Sätze beenden einer der berühmtesten Romane von Albert Camus (1913-1960), „Die Pest; in Frankreich, Italien und Deutschland musste das ausverkaufte Buch erst neu aufgelegt und nachgedruckt werden: „Die Pest“ scheint in Corona-Zeiten das Buch der Stunde.

Der Roman spielt in den 1940er Jahren, der Ausbruch der Pest ereignet sich in Oran, einer Stadt an der Küste von Algerien, die Camus bestens kannte, denn er ist in Algier aufgewachsen, hat in Oran als Lehrer gearbeitet und dort als Journalist und als Mitglied der Résistance gegen die Nazis gekämpft. Zu den autobiografischen Momenten gehört auch, dass Camus an Tuberkulose litt und selbst eine Zeitlang ein Leben in Quarantäne führen musste und genau wusste, wie es sich anfühlt, als Aussätziger behandelt zu werden, dass es großer Kraft bedarf, sich dem Tod entgegenzustellen und dem absurden Leben Sinn zu verleihen.   

Auch wenn die damalige Seuche und Covid-19 nicht vergleichbar miteinander sind und ebenso wenig die medizinischen Bedingungen, so gibt es doch Parallelen zu den 1940er Jahren, der Wahrnehmung der Situation und dem Umgang mit ihr.

Im Zentrum des Romans steht der Arzt Bernard Rieux, der die Seuche von Beginn an miterlebt. Auch in der aktuellen Krise scharen sich viele um Virologen und Ärzte.

Als er (Rieux)am Morgen des 16. April aus seiner Wohnung trat, stolperte er mitten auf dem Flur über eine tote Ratte. Im Augenblick schob er das Tier beiseite, ohne es zu beachten, und stieg die Treppe hinunter.

Er berichtet darüber dem Hauswart, der dieses Vorkommnis zunächst nicht wahrhaben will, es gäbe keine Ratten im Haus. In kurzer Zeit jedoch verbreiten sich die toten Ratten überall:

Am 28. April indessen gab Tansdoc (Agentur für Informationen) eine Ausbeute von ungefähr achttausend Ratten bekannt und in der Stadt erreichte die Beklemmung ihren Höhepunkt.

Sie führt zu der Erkenntnis, dass die gesamte Stadt einem Unheil zum Opfer gefallen ist – und das ist die Pest. Zuerst sterben die Ratten, dann die Menschen.

Doch mussten andere Mitbürger, die nicht alle arm oder Hauswart waren, Herrn Michel auf dem Weg folgen, den er als erster gegangen war. In diesem Augenblick begann die Angst und mit ihr das Nachdenken.

Dr. Rieux hat die Anzeichen der Seuche entdeckt, setzt sich für notwendige Hygienemaßnahmen ein und zögert nicht, die Krankenversorgung auch in den schlimmsten Zeiten dieser Katastrophe fortzusetzten. Er folgt dem ärztlichen Ethos und sieht die Bewahrung der körperlichen Unversehrtheit seiner Mitmenschen als seine professionelle und humane Bestimmung. Er richtet auch nicht über jene, die andere Auffassungen vertreten. Ihm begegnen Vertreter unterschiedlicher Reaktions- und Handlungsweisen auf die Krankheit und das Sterben. Es gibt den scheinbar farblosen Beamten, der seine ganze Existenz der Pestabwehr widmet und sich dafür unermüdlich einsetzt. Beeindruckend ist sicher auch die Auseinandersetzung mit dem Geistlichen Paneloux, der zunächst die Seuche als Strafe Gottes deutet, sich ihr am Ende selbst unterwirft. Da ist der außenstehende Besucher, der eigentlich die Stadt verlassen will, aber aufgrund der Quarantänebestimmungen daran gehindert wird. Nach anfänglichem Zögern stellt sich Tarrou in den Dienst des von Dr. Rieux geleiteten Sanitätstrupps. Ihnen allen gegenüber vertritt Dr. Rieux eine rational begründete Widerstandshaltung gegenüber der Pest und vertritt die Auffassung, dass man nicht hinknien, sondern kämpfen müsse:

„Im Augenblick gibt es Kranke, die geheilt werden müssen. Nachher werden sie nachdenken und ich auch. Aber dringlich ist nur, dass sie geheilt werden. Ich verteidige sie, so gut ich kann…aber da die Weltordnung durch den Tod bestimmt wird, ist es vielleicht besser für Gott, wenn man nicht an ihn glaubt und dafür mit aller Kraft gegen den Tod ankämpft, ohne die Augen zu dem Himmel zu erheben, wo er schweigt.“

„Ja“, stimmte Tarrou zu, „ich verstehe. Nur werden ihre Siege immer vorläufig bleiben, das ist alles.“  
„Immer, ich weiß, aber das ist kein Grund aufzugeben.“ 
„Nein, ich weiß, das ist kein Grund, aber nun kann ich mir vorstellen, was die Pest für Sie bedeuten muss.“
„Ja“, sagte Rieux, „eine endlose Niederlage.“
„Wer hat Sie das alles gelehrt, Herr Doktor?“
„Das Elend.“

Wenn wir auf die gesellschaftliche Reaktion auf die Seuche damals wie auf die Corona-Pandemie heute blicken, fällt eine zweite Parallele auf– vom anfänglichen Nicht-Wahrhabenwollen über zögerliche Hygienemaßnahmen, Isolation, bis hin zur radikalen Abriegelung der Stadt und der Entsorgung der Toten, ohne dass die Angehörigen Abschied nehmen können.

Eine der auffälligsten Folgen der verschlossenen Tore war in der Tat die jähe Trennung, die die Leute unvorbereitet traf. Mütter und Kinder, Ehegatten, Liebespaare, die sich vor wenigen Tagen und kurze Zeit getrennt, in der Gewissheit, dass sie sich in ein paar Wochen wiedersehen würden…sie alle waren mit einem Schlag hoffnungslos weit voneinander entfernt, unfähig zusammen zu kommen oder mit einander zu verkehren.

„So wehrten sich die Gefangenen der Pest von Woche um Woche, so gut es ging…Aber in Wahrheit konnte man zu dieser Zeit, Mitte August, sagen, dass die Pest alles überschwemmt hatte… Das größte war die Trennung und die Verbannung, mit allem, was sie an Angst und Auflehnung mit sich brachte…Man kam auf den Gedanken, innerhalb der Stadt selbst gewisse,, besonders stark betroffene Viertel abzusperren und nur den Menschen, deren Dienste unentbehrlich waren, das Viertel zu verlassen…Aber Nacht war es auch in allen Herzen, und die wahren und falschen Geschichten, die man sich über die Begräbnisse erzählten, waren nicht dazu angetan, unsere Mitbürger zu beruhigen…Nun, was am Anfang unsere Begräbnisse auszeichnete, war die Schnelligkeit! Alle Formalitäten wurden vereinfacht und die Begräbnisfeierlichkeiten allgemein abgeschafft. Die Kranken starben fern von der Familie, und man hatte rituelle Totenwache verboten, so dass der am Abend Gestorbene die Nacht ganz allein verbrachte, und der, der unterwegs starb, ohne Verzug bestattet wurde…Zweifellos wurde das natürliche Empfinden der Familien wenigstens am Anfang dadurch verletzt. Aber das sind Rücksichten, die man in Pestzeiten nicht walten lassen kann.

Die zeitlose Aktualität liegt darin, dass die im Roman ausbrechende Epidemie nicht nur als eine reale Katastrophe mit tausenden Toten dargestellt wird, sondern auch darin, dass die „Pest“ viel mehr ist: eine Metapher für das Unheil, das Menschen überfällt und bei den einen das Gute, bei anderen das Böse hervorruft. Die „Pest“ ist ein Bild für die Unbelehrbarkeit der Menschen, weil sie immer wieder die gleichen Fehler machen, dieselben aussichtslosen Kriege führen, denselben verlogenen Ideologien hinterherlaufen und bizarren Verschwörungstheorien aufsitzen.

Die „Pest“ legt auch die Widerstandskraft von Menschen offen, die sich entschließen, sich der Diktatur des Todes entgegenzustellen und im scheinbar aussichtslosen Kampf dem absurden Dasein einen Sinn verleihen. Denn das sollte man nicht vergessen: geschrieben hat Camus den Roman als Reaktion auf die Besetzung Frankreichs durch die Nazis, als Anklage gegen die Diktatur der Dummheit, als Aufschrei gegen den Massenmord im Holocaust.

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