In den letzten Jahrzehnten hat es in Israel unzählige Ausgrabungen gegeben. Dabei sind viele Funde gemacht worden. Manche davon sind besonders interessant, ja geradezu spektakulär. Zu den eindrucksvollsten Funden gehören die Silberröllchen, die der Archäologe Gabriel Barkay 1979 in Jerusalem auf einem Hügel am Abhang zum Hinnom-Tal in einer Grabhöhle entdeckt hat. Sie fanden sich zusammen mit anderen Grabbeigaben in einem Raum unterhalb einer steinernen Bestattungsbank, auf die man die Verstorbenen legte. Heute kann man die Silberröllchen im Israel Museum in Jerusalem bewundern.
Es handelt sich bei ihnen um zwei zylindrisch aufgerollte Silberstreifen, die wahrscheinlich als Amulette um den Hals getragen worden sind. Das ist deswegen anzunehmen, weil in der Mitte ein Kanal zur Durchführung einer Schnur vorhanden ist. Sie sind insgesamt nicht sehr groß. So misst das erste im jetzigen Zustand 2,75 x 1,1 cm (aufgerollt 9,7 x 2,7 cm), das zweite 1,15 x 0,55 cm (aufgerollt 3,9 x 1,1 cm). Die Untersuchung der Grabhöhle ergab, dass sie seit dem 7. Jh. v. Chr., also seit der späten Königszeit, in Gebrauch war. Das bedeutet, dass auch die beiden Silberröllchen aus dieser Zeit stammen könnten. In der Grabhöhle, die vermutlich einer wohlhabenden Jerusalemer Familie gehörte, wurden auch in späteren Jahrhunderten Angehörige dieser Familie bestattet. Genauere Untersuchungen der Silberröllchen ergaben, dass sie wahrscheinlich im 6. oder 5. vorchristlichen Jahrhundert, also in der exilischen oder nachexilischen Zeit angefertigt wurden.
Auf den beiden Röllchen sind Buchstaben eingeritzt. Der Anfang der Texte ist nicht mehr ganz zu erkennen. Wahrscheinlich stand hier zunächst der Name des Inhabers oder der Inhaberin des Amuletts. In den nächsten Zeilen sind einzelne Worte zu entziffern. Danach kann aber auf jedem der Silberröllchen ein zusammenhängender Text entziffert und rekonstruiert werden. So heißt es auf dem ersten Röllchen (Zeile 14-18):
Es segne dich Jahwe [und] behüte dich; [es] lasse Jahwe leuchten [sein An]ge[sicht über dir].
Auf dem zweiten Röllchen findet sich derselbe Segen (Zeile 5-12):
Es segne dich Jahwe und [be]hüte dich. Es lasse leuchten Jah[we] sein Angesicht [über] dir und setze dir Friede[n …].
Genau dieser Segen steht in einer etwas längeren Version auch im 4. Buch Mose (Numeri 6, 24-26). Dieser so genannte aaronitische Segen ist bis zum heutigen Tag in Gebrauch:
Der HERR segne dich und behüte dich; der HERR lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; der HERR hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.
Die Menschen, die die Silberröllchen um den Hals getragen haben, haben in ihrem Leben mit dem Segen Gottes gerechnet. Sie haben diesen Segen sozusagen ständig bei sich gehabt. Tagein, tagaus wurden sie daran erinnert, dass ihr Leben unter dem Schutz Gottes steht. Als sie starben, haben ihre Angehörigen sie in der Grabhöhle der Familie bestattet. Die beiden Silberröllchen haben sie mit ins Grab gelegt. Daran wird deutlich, dass sie die Hoffnung hatten, dass dieser Segen Gottes nicht nur im Leben, sondern auch darüber hinaus im Tod wirksam ist. Die beiden Röllchen geben uns heute einen eindrucksvollen Einblick in die Spiritualität der Menschen in Jerusalem vor zweieinhalb tausend Jahren.
Hallo, wie kommen Sie darauf den Fund nachexilisch anzusetzen? Der Schreibstil deutet paläographisch auf die zweite Hälfte des 7.Jahrhunderts hin. Auch die Keramikfunde aus dem Grab passen zu der vorexilischen Datierung.
LG Rainer Riesebieter