Eine Adventspredigt
von Prof. Dr. Michaela Geiger
[Vorbemerkung: Die folgende Predigt wurde vor einem Jahr, am 4. Advent 2021 in der Unterbarmer Hauptkirche gehalten. Damals stand uns die Omikron-Variante von Corona bevor, heute sind es Ukraine-Krieg und die Energie-Versorgung. Dennoch wurde die Predigt nicht aktualisiert, sondern so belassen, wie sie gehalten wurde. Uwe Gerrens].
Liebe Gemeinde,
wie ist das heute bei Ihnen mit der Freude? Vielleicht haben Sie einfach gute Laune, einfach so. Oder denken Sie: schön wär’s. Früher hab‘ ich mich schon auf Weihnachten gefreut, aber mit Corona macht das alles doch keinen Spaß mehr … Wie soll man sich denn freuen, wenn man keine Pläne machen kann, nicht weiß, wen man überhaupt noch treffen darf … und wie gefährlich das ist.
Da mischt sich eine ordentliche Portion Ärger in die Freude, und Enttäuschung. Die Hoffnung, dass Corona sich nach einem Jahr wieder verzieht, hat sich als trügerisch erwiesen. Wir warten nicht auf das Christkind, sondern auf Omikron – ganz ohne Vorfreude. Wir mussten die Hoffnung aufgeben, dass das Leben bald wieder wie immer ist. Das griechische Alphabet hat noch viele Buchstaben. Und trotzdem wird es nächste Woche Weihnachten.
Gemischte Gefühle – so geht es vielen von uns in dieser Zeit. Das kann unruhig machen, und manchmal ungehalten.
Freue dich! Sagt der Engel Gabriel zu Maria in unserem Predigttext. Lassen Sie uns hören, ob es da besser läuft mit der Freude.
26 Im sechsten Monat aber wurde der Engel Gabriel von Gott in einen Ort Galiläas gesandt, der Nazaret hieß,
27 zu einer jungen Frau. Diese war verlobt mit einem Mann namens Josef, aus dem Hause Davids.
Der Name der jungen Frau war Maria.
28 Als er zu ihr hineinkam, sagte er:
»Freue dich, du bist mit Gnade beschenkt,
denn die Lebendige ist mit dir!«
29 Sie aber erschrak bei diesem Wort, und sie fragte sich, was es mit diesem Gruß auf sich habe.
30 Der Engel sprach zu ihr Folgendes:
»Fürchte dich nicht, Maria, du hast *Gnade gefunden bei Gott.
31 Und siehe, du wirst schwanger werden
und einen Sohn gebären und du wirst ihm den Namen Jesus geben.
32 Dieser wird groß sein und Kind des Höchsten genannt werden.
Gott, die Lebendige, wird ihm den Thron Davids, seines Vorfahren, geben
33 und er wird König sein über das Haus Jakobs in alle Ewigkeiten
und seine Herrschaft wird kein Ende nehmen.«
34 Maria aber sagte zum Engel
»Wie soll dies geschehen, da ich von keinem Mann weiß?«
35 Der Engel antwortete ihr:
»Die heilige Geistkraft wird auf dich herabkommen
und die Kraft des Höchsten wird dich in ihren Schatten hüllen.
Deswegen wird das Heilige, das geboren wird,
Kind Gottes genannt werden.
36 Siehe, Elisabet ist mit dir verwandt:
Sie hat in ihrem Alter ein Kind empfangen
und dieser Monat ist der sechste für die,
die unfruchtbar genannt wurde.
37 Denn alle Dinge sind möglich bei Gott.«
38 Maria sagte:
»Siehe, ich bin die Sklavin Gottes.
Es soll geschehen, wie du mir gesagt hast.«
Der Engel aber ging fort.
Eine vertraute Geschichte, mit klaren Linien. Nichts Überflüssiges wird erzählt. Der Engel Gabriel kommt zu einer jungen Frau namens Maria. Er grüßt sie: „Freue dich!“ und verkündet ihr, dass sie schwanger wird und einen Sohn namens Jesus gebären wird. Ziemlich schnell nimmt Maria die Herausforderung an. Sie akzeptiert die große Aufgabe, aber von Freude ist bisher nichts zu sehen. Lassen Sie uns die vertraute Geschichte mit anderen Augen betrachten, mit den Augen eines Künstlers. Hier finden Sie die Szene, wie Tizian sie gemalt hat.
Mit klaren Linien malt er die Begegnung zwischen Maria und dem Engel. Das Bild ist zweigeteilt durch die Säulen im Hintergrund: Rechts blicken wir auf die Veranda einer Villa, links ins Freie. Rechts die menschliche und links die göttliche Hälfte. Und die Diagonale bringt die Szene in Bewegung. Von links oben kommt der Engel in einer Gewitterwolke. Und rechts unten, geschützt hinter einem Lesepult, kniet Maria und liest. Sie sieht den Engel nicht an, ist ganz versunken in ihre Lektüre, ihr weißes, glattes Gesicht aufnahmebereit für alles, was sie liest, und alles, was da kommen mag. Sie erhebt die Hand nicht zum Gruß, sondern legt sie sich auf die Schulter, so dass sie ihr Gesicht umrahmt. Maria ist ganz Ohr. Ganz Stille und Konzentration. Das steht im Gegensatz zu dem bewegten roten Gewand des Boten, der mit seiner Botschaft in die geordnete Welt eindringt. Offenbar spricht er Maria gerade an, und er zeigt ihr, was geschieht: Ein Strahl aus den Wolken bewegt sich auf Maria zu. So stellt sich Tizian das vor, dass Maria schwanger wird: Die heilige Geistkraft kommt aus der Wolke auf Maria zu, und die Kraft des Höchsten wird Maria in ihren Schatten hüllen. Genau so, wie das dunkle Kleid Maria einhüllt. Das Gewand lässt offen, ob Maria in diesem Moment schon schwanger geworden ist.
Das ist keine Szene großer Freude, für mich ist das Bild eher ernst, es strahlt eine große Klarheit aus. Maria nimmt die schwere Aufgabe mit Würde entgegen. Dabei vermeidet Tizian alles Störende: Er vermeidet gemischte Gefühle. Da dringt ein männlicher Gottesbote in Marias Haus ein und ist mit ihr alleine. Aber Tizian lässt die Szene auf der Terrasse spielen, so dass die Begegnung weniger bedrohlich wirkt. Maria regt sich nicht auf, sondern sitzt ganz ruhig.
Tizian stellt klar, dass sich der Bote Maria nicht nähert. Er bleibt in der Distanz und kündigt die Schwangerschaft nur an. Er lässt Maria bescheiden und souverän zugleich wirken. Sie erschrickt nicht und gerät auch nicht in Not. So malt sich Tizian die Begegnung des Engels Gabriel mit Maria aus.
Lassen Sie uns eine andere Version der Erzählung daneben stellen, eine musikalische. Das Ensemble Geistreich singt „Gabriels Message“, ein baskisches Volkslied mit einer Melodie aus dem 13. Jh., also noch etwas älter als Tizian.
[Chor: Gabriels Message]
Wäre das der richtige Soundtrack zu Tizians Bild? Ich erkenne das Geordnete, das Feierliche, Ernste wieder, und auch eine melancholische Note – das Gloria strahlt nicht, sondern weiß um die Last der Aufgabe. Aber vielleicht haben Sie ja etwas ganz Anderes gehört …
Das Bild von Tizian hat einen anderen Künstler schwer beeindruckt. Der deutsche Künstler Gerhard Richter hat Tizians Verkündigung in Venedig gesehen. Er erzählt: »Ich wollte es für mich haben, für meine Wohnung, ich wollte es also kopieren, so gut es geht.“ Richter nimmt eine Postkarte als Vorlage und malt eine präzise Kopie in seinem typischen Stil. Das Ergebnis habe ich Ihnen nicht abgedruckt. Denn Richter ist nicht zufrieden mit seinem Werk. Er sagt: „Es gelang mir nicht, eine halbwegs ansehnliche Kopie zu machen.“ Ich persönlich finde die Kopie ziemlich überzeugend … Aber Richter wollte etwas Anderes. Er malt weitere Variationen der Verkündigung, mit denen ist er schließlich ganz zufrieden, sagt er. Die Version mit der Nummer 2 finden Sie hier. Erkennen Sie etwas auf dem Bild?
Anstelle der klaren Linien sehen wir nun Farbwolken: Hellgraue, Dunkelgraue und Rote, die dynamisch ineinanderfließen. Was sich hier ereignet, können wir nur erahnen. Vielleicht stellt Richter dar, wie „die Kraft des Höchsten Maria in ihren Schatten hüllt“. Oder ist das Geschehen so überwältigend, dass wir nicht mehr klar sehen können? Richter malt, wie Grenzen überschritten werden. Zwischen Himmel und Erde, zwischen Gott und Mensch … Und die Grenzen dessen, was wir bisher über Schwangerschaften wussten … Bei Maria ist es eine Schwangerschaft ohne männliche Beteiligung, bei ihrer Verwandten Elisabeth eine Schwangerschaft nach der Menopause …
Wenn Grenzen überschritten werden, löst das zumindest gemischte Gefühle aus. Zuallererst bei der jungen Frau Maria. Als unverheiratete Frau ist sie in mehrfacher Hinsicht verletzbar: Ihr sozialer Status als Verlobte von Joseph ist in Gefahr. Die Schwangerschaft ergreift Besitz von ihrem Körper. Und in damaliger Zeit ist es keineswegs sicher, dass sie die Schwangerschaft überlebt. Wie lebensgefährlich Schwangerschaften sein können, wird vielen von uns in Deutschland erst unter Corona-Bedingungen wieder deutlich. Auf Richters Bild werden Grenzen durchlässig: Zwischen dem dunklen Gewand Marias, dem roten Gewand des Boten und dem hellen, göttlichen Licht. Himmlisches und irdisches vermischen sich, Geistkraft und Blut. Das ist überwältigend. Und unfassbar.
Darum überzeugt mich die Idee, dieselbe Szene mehrfach zu malen. Weil ein Bild das Wunder nicht fassen kann.
Auf der ersten Seite des Programms sehen sie noch eine Version. Hier ist mehr von der Tizian-Vorlage zu erahnen, links ist der Engel noch schemenhaft zu erkennen, und rechts sieht man das dunkle Kleid Marias und ihr helles Gesicht. Engel und Maria werden durch das göttliche Licht verbunden – ein Dreieck aus weiß und rot, eine große Dynamik, die sich auf Maria richtet.
Maria hält dieser Energie stand. Sie sagt: „Siehe, ich bin die Sklavin Gottes. Es soll geschehen, wie du mir gesagt hast.“ Maria hält stand, aber Freude über das Geschehene kommt nicht bei ihr an.
Dazu braucht es noch einen langen Weg, erzählt Lukas weiter. Maria braucht jetzt Bewegung.
39 In diesen Tagen stand Maria auf. Sie wanderte eilig durch das Gebirge in eine Stadt Judäas.
40 Sie ging in das Haus des Zacharias und begrüßte Elisabet.
41 Und als Elisabet den Gruß Marias hörte, da hüpfte das Kleine in ihrem Bauch. Elisabet wurde mit heiliger Geistkraft
erfüllt, und sie brach mit lauter Stimme in die Worte aus:
42 Gesegnet bist du unter den Frauen, und gesegnet ist die Frucht deines Bauches. Woher weiß ich, dass die Mutter
meines Herrn zu mir kommt? Siehe, als dein Gruß in mein Ohr hineinkam, da hüpfte das Kleine in meinem Bauch
voller Jubel. Glücklich ist, die geglaubt hat, dass sich erfüllen werde, was die Lebendige zu ihr gesagt hatte.
Als Maria zu Elisabeth kommt, löst ihr Gruß eine Kettenreaktion aus: Zuerst freut sich das Baby in Elisabeths Bauch und hüpft, das wird später einmal Johannes der Täufer, dann wird Elisabeth mit heiliger Geistkraft erfüllt und segnet Maria voller Freude. Und erst, als Maria diese überwältigende Resonanz spürt, löst sich etwas in ihr.
Maria freut sich: Ihre Seele lobt, und ihr Geist jubelt.
Maria singt das Magnifikat.
Freude geht seltsame Pfade.
Von der Aufforderung des Engels „Freue dich“ ist es ein weiter Weg, bis Maria sich wirklich freut. Sie geht durch Erschrecken und Demut, durch Angst und Überforderung. Sie sucht ein Gegenüber, erst dann kann sie das Unfassbare fassen. Begreifen, was sie berührt und umhüllt hat. Was ihr ganzes Leben verändert.
Wir könnten uns von Maria anstecken lassen. Von ihrer Bereitschaft, das Unvermeidliche zu akzeptieren. Und von ihrer Beharrlichkeit, sich auf den Weg zur Freude zu machen. Vielleicht kommt die Freude, anders, als geplant.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne.
Amen.
Soeben habe ich diesen Text gelesen. Ich besuche heute Abend einen Vortrag in Dresden zu diesem Bild von Gerhard Richter und suchte Informationen. Vielen Dank, Angelika Magirius