„Wie liegt die Stadt so verlassen, die voll Volks war!“ Dieser Satz geht mir seit einigen Tagen nicht mehr aus dem Kopf. Er beschreibt das, was ich in Düsseldorf sehe, wenn ich mit der fast leeren Straßenbahn durch die Stadt fahre. Nur wenige Autos, einige Menschen zu Fuß, meist allein, nur selten zu zweit. Kein Stau, keine Menschenansammlungen, nirgendwo Pulks von Menschen. Die Stühle in den Straßencafés zusammengeräumt. Die Läden einfach zugemacht. Eine ganze Stadt im Krisenmodus. Einfach heruntergefahren. Der Lebendigkeit beraubt. Man glaubt es kaum. Die große Krise ist unübersehbar.
Der Satz ist etwa 2600 Jahre alt und wurde geschrieben, als ebenfalls eine große Krise alles verändert hatte (Klagelieder 1,1). In einer anderen Stadt, in Jerusalem. Es war auch eine andere Krise, aber ebenfalls eine einschneidende, eine nie dagewesene Krise. Ein Schreiber hat ihn verfasst – im Angesicht der von den Babyloniern zerstörten Stadt Jerusalem. Jerusalem, die quirlige Stadt, war ihrer Lebendigkeit beraubt. Kein Markt mehr, keine Gruppen von Menschen, niemand unterwegs. Als hätte jemand den Stecker gezogen. Stillstand. Bewegungslosigkeit. Kaum zu glauben. Geradezu unheimlich. Die Krise war nicht zu übersehen.
Damals sah niemand einen Weg aus der Krise. Dieser Schreiber schon gar nicht. Die Krise führte dazu, dass alle erstarrten. Aber dabei blieb es nicht. Es gab auch einige Schreiber und Priester, die anfingen sich zu erinnern. An Erzählungen, die ihnen ihre Vorväter überliefert hatten. Hatte Gott in alten Zeiten nicht schon oft Israel in Krisen beigestanden? Hatte er nicht Wege aus Krisen aufgezeigt? War er nicht ein Gott, der aus Krisen führt? Ein Gott, der Neues schafft? Wäre es nicht gut, diese alten Erzählungen aus früheren Zeiten noch einmal neu aufzuschreiben? Für die Menschen im Krisenmodus? Dann könnte man deutlich machen, dass es Wege aus der Krise gibt. Auch in der Gegenwart. Auch in Jerusalem. Und die Schreiber und Priester gingen an die Arbeit. Eine Zeile nach der anderen schrieben sie behutsam auf ihre Schriftrollen. Sie erzählten die alten Geschichten noch einmal neu, vom Auszug Israels aus Ägypten, von dem beschwerlichen Weg durch die Wüste und viele andere mehr. Eine Krisengeschichte nach der anderen. Ihnen wurde beim Neuerzählen und beim Schreiben deutlich: Die Krise ist nicht das letzte. Es gab und gibt Auswege und Neuanfänge. In der Vergangenheit, aber auch in der Gegenwart. Gott führt aus Krisen heraus. Immer wieder. Und zunehmend wurden diese Schreiber und Priester gehört. Ihre Texte machten die Runde. Hoffnung keimte. Ja, es sollte eine Zukunft geben. Für Israel und für Jerusalem.
Mich haben diese Schreiber und Priester immer beeindruckt. Ich bin ihnen für ihre Texte, die wir heute im Alten Testament im ersten Teil der Bibel finden, sehr dankbar. Sie haben etwas ganz Wesentliches erkannt und auf den Punkt gebracht: Es gibt Wege aus einer Krise. Mit Gottes Hilfe allemal. Damals und heute. In Jerusalem und in Düsseldorf. Und an anderen Orten auch. Sie waren sich sicher: Das bunte Leben wird zurückkehren.
Dr. Dietrich Knapp, Ev. Stadtakademie