Liest man das Alte Testament, ist das eine oder andere Mal von geheimnisvollen Wesen die Rede, die in unserer Lebenswelt nicht vorkommen. Wo Gott ist, sind auch sie meist nicht weit. Es ist nicht leicht, sich auf diese etwa zweieinhalb tausend Jahre alten Texte einen Reim zu machen. So heißt es gleich am Anfang des Alten Testaments am Ende der berühmten Paradiesgeschichte: Und Gott der Herr „trieb den Menschen hinaus und ließ lagern vor dem Garten Eden die Cherubim mit dem flammenden, blitzenden Schwert, zu bewachen den Weg zu dem Baum des Lebens“ (1. Mose 3,24). Was haben sich die Schreiber unter den Cherubim, die das Paradies bewachen, eigentlich vorgestellt?
Über die Jahrhunderte hat man hier an Engel oder engelähnliche Wesen gedacht, die verhindern, dass das erste Menschenpaar zurück ins Paradies geht. Dies zeigt zum Beispiel eine Abbildung aus dem 19. Jahrhundert von Julius Schnorr von Carolsfeld. Der Engel weist mit strengem Blick und ausgestrecktem Arm den Weg aus dem Paradies. In der anderen Hand trägt er das flammende, blitzende Schwert. Es gibt für das erste Menschenpaar keinen Weg zurück. Sie haben das erkannt und so ist ihr Entsetzen groß.
Die neuere Bibelwissenschaft hat sich intensiver mit den verschiedenen Wesen beschäftigt, die nach den Texten des Alten Testaments Gott umgeben. Dabei hat sich gezeigt, dass man sich die Cherubim in den Zeiten des alten Israel doch ganz anders vorgestellt hat. Cherubim sind, wie wir heute wissen, Mischwesen, die auch in vielen Ländern des Alten Orients abgebildet worden sind. Sie haben einen Löwenkörper, Adler- oder Geierflügel und einen Menschenkopf. Diese Wesen haben also Kraft wie ein Löwe, sind gewissermaßen Könige der Lüfte und besitzen einen scharfen Verstand wie der Mensch. Das jeweils Charakteristische von Löwe, Adler und Mensch ist in ihnen vereint. Insofern sind sie ganz besondere Wesen, wir würden sie heute vielleicht Hybridwesen nennen, vor denen man sich wirklich fürchten muss. Wenn solche Wesen das Paradies bewachen, dann ist der Rückweg komplett versperrt. Denn an diesen „Monstern“ ist kein Vorbeikommen.
Die Cherubim begegnen auch noch in einem anderen interessanten Zusammenhang. So soll in Jerusalem im Allerheiligsten, also ganz im Zentrum des salomonischen Tempel ein leerer Cherubenthron gestanden haben: Und Salomo „stellte die Cherubim mitten ins Allerheiligste. Und die Cherubim breiteten ihre Flügel aus, sodass der Flügel des einen Cherubs die eine Wand berührte und der Flügel des andern Cherubs die andere Wand berührte. Aber in der Mitte berührte ein Flügel den andern“ (1. Kön 6,27). Gott habe auf diesem Cherubenthron wie ein König gesessen, ohne jedoch sichtbar zu sein. Auch hier befinden sich die geheimnisvollen Cherubim in unmittelbarer Nähe Gottes. Sie gehören gewissermaßen zu Gottes natürlichem Umfeld. Wie man sich einen Cherubenthron genau vorgestellt hat, weiß man durch eine Elfenbeinplakette, die im Norden Israels gefunden worden ist. Dort ist links ein kanaanäischer König abgebildet, der auf einem Thron sitzt, der von zwei Cheruben gebildet wird. So ähnlich wird auch der leere Cherubenthron im Jerusalemer Tempel ausgesehen haben. Gott wird im Alten Testament daher mehrfach als der bezeichnet, „der über den Cherubim thront“ (2. Sam 6,2 und andere Stellen).
Wer sich derartige Funde anschaut, merkt, dass die Bilderwelt des alten Israel eng mit der Bilderwelt des Alten Orients verknüpft ist. Solche Bilder hatten die Menschen damals im Kopf. Wir haben heute im 21. Jahrhundert ganz andere Bilder im Kopf, die uns prägen. Deshalb ist es oft auch so schwer, biblische Texte zu verstehen. Wir müssen unsere eigenen inneren Bilder für einen Moment beseite schieben und uns auf die fremdartigen, zwei bis drei Jahrtausende alten Bilder einlassen, die einer ganz anderen Welt entstammen.
Eins kann man aber sicher von den Schreibern, die diese biblischen Texte verfasst haben, lernen. Für sie stand unumstößlich fest: Gott ist der allmächtige und geheimnisvolle, der größer und mächtiger ist als unsere Vorstellungen. Deswegen muss es aus ihrer Sicht in der Umgebung Gottes die verschiedensten geheimnisvollen Wesen gegeben haben. Indem die Schreiber diese beschreiben und von ihnen erzählen, wollen sie eigentlich von der Größe und Macht und vom Geheimnis Gottes erzählen. Mit den hybridartigen Wesen haben wir heute unsere Schwierigkeiten. Für unseren Glauben sind sie eher hinderlich. Diese Wesen gehören in der Tat in vergangene Zeiten. Aber von der Größe und der Macht und vom Geheimnis Gottes zu erzählen, ist auch heute unsere Aufgabe. Aber wir müssen das dann auf unsere Weise tun, mit anderen, mit neuen Bildern, die aus unserer Zeit kommen.