Dass die Bibel mit ihren vielen Schriften nicht vom Himmel gefallen ist, ist heute eine Binsenweisheit. Es gehört unter aufgeklärten Menschen zum Allgemeingut, dass Menschen in unterschiedlichen Zeiten und Epochen die verschiedenen Schriften verfasst haben. So weit so klar. Schwieriger und komplexer wird es, wenn man erklären will, wie und wann sie im Einzelnen entstanden sind und wer die Verfasser waren. Mit dieser Frage beschäftigt sich die Bibelwissenschaft seit mehr als zweihundert Jahren. In den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts sah es eine Zeitlang so aus, als wären hier alle wichtigen Fragen abschließend geklärt.
Aber dann kamen verschiedene Bibelwissenschaftler/innen, die an Universitäten lehrten, und hinterfragten das, was man für sicher und unumstößlich hielt. Es wurden viele neue Thesen aufgestellt. Das alte Lehrgebäude geriet ins Wanken. Neue Einsichten setzten sich mehr und mehr durch. Dieser große Umschwung gehört mit zum Spannendsten, was die Theologie in den letzten 30 Jahren zu bieten hat.
Für Leute, die nicht vom Fach sind, ist es nicht einfach, hier einen Überblick zu bekommen. Aus diesem Grund haben zwei Bibelwissenschaftler ein (allgemeinverständliches) Buch geschrieben, das die neuesten Erkenntnisse einer größeren Leserschaft nahebringen will. Der erste, Konrad Schmid, ist Professor für Alttestamentliche Wissenschaft und Frühjüdische Religionsgeschichte an der Universität Zürich, der zweite, Jens Schröter, lehrt als Professor für Neues Testament und neutestamentliche Apokryphen an der Humboldt-Universität zu Berlin. Im Klappentext des Buches, das bereits in dritter Auflage erschienen ist, heißt es: „Das … Buch beschreibt auf dem aktuellen Forschungsstand den langen Weg von frühen Erzählungen des alten Israel über Schlüsseltexte des jüdischen Monotheismus und des frühen Christentums bis hin zu heiligen Büchern der Weltreligionen Judentum und Christentum.“ Es ist auf diese Weise gewissermaßen eine „Biographie des berühmtesten Buches der Welt“ entstanden.
Im Einzelnen kann man viel von den beiden Autoren lernen. Die ältesten Schriften des Alten Testaments und damit der ganzen Bibel stammen nicht, wie in früheren Zeiten angenommen, aus Jerusalem aus der Zeit König Salomos, also aus dem 10. Jahrhundert vor Christus. Vielmehr gibt es erst im 8. Jahrhundert vor Christus im (nördlich von Jerusalem gelegenen) Staat Israel in der Hauptstadt Samaria die entsprechenden Voraussetzungen, die für Literaturproduktion notwendig sind. So wird es dort am Königshof und an den Tempeln des Staates Schreiber gegeben haben, die imstande waren, längere Texte zu komponieren und zu verfassen. So scheinen die Texte vom Ahnvater Jakob (1. Mose 25-35) aus dieser Zeit zu stammen. Unter ihnen findet sich auch der Text, der erzählt, dass Jakob in einem Traum eine Himmelsleiter schaut (1. Mose 28, 10-22). Aber auch Teile der Erzählung vom Auszug Israels aus Ägypten gehören zu den ältesten Partien des Alten Testaments. Hier liegt also der Anfang einer jahrhundertelangen Entwicklung, die schließlich mit der Bibel als ganzer enden sollte.
Jetzt im Sommer hat man in der Regel etwas mehr Zeit als sonst im Alltag. Wer ein spannendes und erkenntnisreiches Buch aus dem Bereich der Theologie lesen und dabei miterleben möchte, dass – wie in jeder Wissenschaft – auch in der Theologie die Dinge stets im Fluss sind, dem sei dieses Buch sehr empfohlen:
Konrad Schmid/Jens Schröter: Die Entstehung der Bibel. Von den ersten Texten zu den heiligen Schriften, Verlag C.H.Beck, München ³2020.