Fairness – ein Gedankenexperiment

Dr. Martin Fricke
von Dr. Martin Fricke

Ist es fair, wenn vollständig Geimpfte in der Corona-Pandemie mehr Freiheiten genießen dürfen, während Impfwillige, aber noch nicht Geimpfte mehr oder weniger harte Einschränkungen hinnehmen müssen?

Ja, sagen die einen. Weil die Beschränkung grundlegender Freiheitsrechte in einem freiheitlichen Rechtsstaat nur eine absolute Ausnahme sein darf, die sofort aufgehoben werden muss, wenn der diese Ausnahme rechtfertigende Tatbestand – in diesem Fall der Lebens- und Gesundheitsschutz – entfällt.

Nein, sagen die anderen. Weil nun die, die bislang nicht nur auf die eigene, sondern auch auf die besondere Vulnerabilität der jetzt bereits Geimpften Rücksicht genommen haben, gegenüber jenen benachteiligt werden.

Quelle: vaccination_angelo.e.pixabay.jpg

Müssen also die noch nicht Geimpften zusätzlich zu der Tatsache, dass sie nach wie vor gesundheitlich mehr gefährdet sind als ihre geimpften Mitbürger*innen, gesetzlich geregelte Ungleichheit in Kauf nehmen? Oder sollten umgekehrt bereits Geimpfte, solidarisch mit denen, die noch einen Impftermin warten, auf das Privileg der Freiheit verzichten müssen? Was ist fair?

Der neuzeitliche Philosoph, der sich am explizitesten mit dem Problem der Fairness auseinandergesetzt hat, war John Rawls. Rawls lebte von 1921 bis 2002 in den Vereinigten Staaten und lehrte mehr als dreißig Jahre an der Harvard University. In seiner Jugend starben zwei seiner Brüder an Erkrankungen, mit denen sie sich bei ihm angesteckt hatten. Diese Erfahrung mag eine der Prägungen gewesen sein, die ihn später seine „Theorie der Gerechtigkeit“ (A Theory of Justice, 1971) hat entwickeln lassen.

Was besagt diese Theorie? – Sie beruht auf zwei Grundsätzen: dem Prinzip der Chancengleichheit und dem sog. Differenzprinzip. „Jede Person“, so Rawls, „hat den gleichen unabdingbaren Anspruch auf ein völlig adäquates System gleicher Grundfreiheiten, das mit demselben System von Freiheiten für alle vereinbar ist.“ Und: „Soziale und ökonomische Ungleichheiten müssen zwei Bedingungen erfüllen: erstens müssen sie mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die unter Bedingungen fairer Chancengleichheit allen offenstehen; und zweitens müssen sie den am wenigsten begünstigten Angehörigen der Gesellschaft den größten Vorteil bringen.“ (Justice as Fairness: A Restatement, 2001)

Sind diese Grundsätze zustimmungsfähig? – Um das zu überprüfen, lädt Rawls uns zu einem Gedankenexperiment ein: Läge auf uns ein „Schleier des Nichtwissens“ (veil of ignorance), unter dem wir nicht wüssten, welche Rolle wir in einer noch zu bildenden sozialen Ordnung einnehmen, würden wir eine Gesellschaft anstreben, in der alle dieselben Grundfreiheiten haben. Das erste Prinzip würden wir also wohl alle unterschreiben. Aber wie steht es mit dem zweiten? – Rawls zufolge würden wir uns für eine Gesellschaft entscheiden, die ihren schwächsten Gliedern maximalen Vorteil bringt. Freilich so, dass das erste Prinzip – gleiche Freiheiten für alle – dadurch nicht aus den Angeln gehoben wird.

Was ergibt sich aus diesem Gedankenexperiment, der Annahme eines „Schleiers des Nichtwissens“, in Bezug auf einen fairen Umgang mit schon und noch nicht Geimpften? – Für mich dies: Könnte ich mir eine soziale Ordnung wünschen, dann

  • ist sie solidarisch mit jenen, die noch nicht geimpft sind;
  • garantiert sie eine freilich eingeschränkte, aber für alle gleiche Freiheit aller;
  • greift sie als Gemeinschaft denen, die durch die Einschränkungen ihrer Freiheit existentiell bedroht sind – der Ladenbesitzerin, dem Kneipenwirt, dem Künstlerpaar… – so lange unter die Arme, bis alle Einschränkungen für alle überflüssig geworden sind.

Lassen auch Sie sich doch einmal auf Rawls´ Gedankenexperiment ein! Ich bin gespannt, zu welchen Ergebnissen Sie kommen. Seien Sie behütet!

4 Kommentare

  1. Ich, als nicht geimpfte Schülerin, finde Ihre Herangehensweise nachvollziehbar und logisch. Natürlich wäre es fairer Umgang, wenn die Geimpften sich gegenüber den Nicht-Geimpften solidarisch zeigen und die Einschränkungen mitmachen würden. Es ist wichtig, dass auch die Geimpften dazu beitragen, dass sich die Lage für alle bessert und da auch Geimpfte das Virus evtl. weitergeben können, wäre das ein weiterer Grund dafür, dass die Einschränkungen weiterhin für Geimpfte gelten. Doch Lockerungen für Geimpfte können meiner Meinung nach auch sinnvoll sein, z.B. in Alten- und Pflegeheimen. Die Personen, die in diesen Einrichtungen die Corona-Pandemie verbringen, sind nämlich meines Erachtens das letzte Jahr besonders hart getroffen gewesen. Die Einschränkungen gingen so weit, dass die Betroffenen weder zusammen essen noch Besuch empfangen durften. In diesen Bereichen sind Lockerungen aus meiner Sicht nötig und akzeptabel. Auch kleinere Aufhebungen, bespielweise, dass Geimpfte vor einem Friseurbesuch keinen Test machen müssen, finde ich vertretbar. Dennoch denke ich, dass „größere“ Lockerungen wie z.B. die Aufhebung der Ausgangssperre und Massentreffen aus Solidaritätsgründen nicht gemacht werden sollten. Auch wenn der Nicht-Geimpfte keine Nachteile dadurch hat, dass der Geimpfte mehr darf, ist es doch wichtig, dass der Nicht-Geimpfte das Gefühl hat, dass die Gesellschaft zusammenhält und der Geimpfte sich solidarisch zeigt.

  2. Regina Kniprode

    Das ist die Empörung? Die Geimpften „genießen“ also ihre Freiheit, während die Impfwilligen die Aberkennung ihrer unveräußerlichen Grundrechte hinnehmen. Netterweise nur bis sie ebenfalls geimpft sind. Das ist Ihr Konflikt? Ich muss kurz kotzen.
    Was ist mit denen, die ihr Leben lieber Gott, als der Pharmalobby anvertrauen? „Ob tausend fallen zu deiner Seite und zehntausend zu deiner Rechten, so wird es doch dich nicht treffen.“ Psalm 91, 7. Was ist mit denen, die Freiheit nicht für einen Bonbon halten und Grundrechte für etwas Unveräußerliches? In ihrem Weltbild kommen diese gar nicht mehr vor. Schämen Sie sich!

  3. Pingback:Empörung und Sachlichkeit – Himmelsleiter

  4. Ich finde Ihre Überlegungen interessant, frage mich aber, ob dies wirklich ein Gedanke der „Fairness“ ist, wenn Geimpfte weiterhin auf Ihre Rechte auf Freiheit verzichten, damit die Ungeimpften nicht neidisch sind und sich in ihrer Beschränkung „wohler“ fühlen. Ich persönlich freue mich einfach, wenn das Leben wieder startet und etwas Normalität zurückkehrt, selbst wenn ich noch etwas warten muss, bis ich selber wieder vollständig teilnehmen kann. Dies macht doch Mut und entspricht meiner Meinung nach auch der Ansicht des Philosophen Rawl. Denn wir haben alle in naher Zukunft die Möglichkeit, uns impfen zu lassen und auch wieder sämtliche Freiheiten genießen zu können und werden nicht dauerhaft vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen. Selbst Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen, werden bald durch die Herdenimmunität hoffentlich geschützt sein und wieder ohne Einschränkung von Grundrechten leben können. Dieses Ziel rückt für mich näher, wenn jetzt das Leben wieder langsam startet. Eine Neiddebatte halte ich nicht für sinnvoll und hilft ganz bestimmt auch nicht den Restaurantbesitzern, Kneipenwirten, Schauspielern und Kinobetreibern, die jetzt durch die ersten Gäste endlich wieder Geld verdienen können. Das hilft doch letztlich der gesamten Gesellschaft, weil so die Freizeitaktivitäten überleben können und von allen bald ohne Einschränkungen wieder genutzt werden können. Ein Denkanstoß wäre vielleicht, dass auch Getestete die gleichen Rechte bekommen.

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