Die meisten Menschen, die ich kenne, antworten auf die Frage, wie sie sterben wollen, in ähnlicher Weise. Man möchte zu Hause sterben, im Kreise der Angehörigen, ohne langes Leiden an Krankenhausapparaturen. Verständlicherweise. Nicht jedem aber wird dieser Wunsch erfüllt werden. In Deutschland sterben mehr als die Hälfte aller Menschen im Krankenhaus. Und die näheren Umstände sind häufig so, dass erhebliche Fragen aufgeworfen werden: Muss man wirklich tatenlos dabei zusehen, wie ein schwerkranker Mensch leidet? Zumal wenn er ausdrücklich formuliert, dass er sterben möchte? Hat ein leidender Mensch ein Recht darauf, sich das Leben zu nehmen? Und welches Recht hat er, sich dabei unterstützen zu lassen?
Diesbezüglich war die Rechtslage in Deutschland, anders als etwa in der Schweiz oder in den Niederlanden, lange Zeit auch aufgrund der deutschen Geschichte (Stichwort: Euthanasie / Tötung unwerten Lebens) restriktiv. In dieser Fragestellung hat ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Februar die Lage deutlich verändert. Nur aufgrund der zeitgleich beginnenden Coronawelle ist es erklärlich, dass zum damaligen Zeitpunkt dieses Urteil nicht für mehr Aufregung und Diskussionen gesorgt hat.
Spätestens am vergangenen Montag ist die betreffende Debatte aber im öffentlichen Bewusstsein angekommen. Ferdinand von Schirach, Jurist und Autor zahlreicher sehr erfolgreicher Bücher, hat ein Theaterstück geschrieben, das nun in einer Filmadaption zu sehen war (und in der Mediathek der ARD noch zu sehen ist).
Präsentiert wird uns ein gut gefüllter Raum. Zahlreiche Zuschauer verfolgen gebannt die Sitzung eines fiktiven Ethikrates. Die Vorsitzende (gespielt von Barbara Auer) befragt einen sterbewilligen Mann (gespielt von Matthias Habich) und dessen Hausärztin (Anna Maria Mühe). Die Befragung von drei Sachverständigen übernimmt dann ein langjähriges Mitglied der Ethikkommission (Ina Weisse).
Die Vorgeschichte: die schwerst krebskranke Ehefrau eines 78-jährigen Mannes bittet diesen um Sterbehilfe, dieser sieht sich dazu aber nicht in der Lage. Nach dem Tod seiner geliebten Frau, 42 Jahre waren die beiden verheiratet, verlässt ihn allmählich der Lebensmut und er möchte ihr in den Tod folgen. Er möchte nun aber nicht einen stillen Suizid begehen, sondern aufgrund der mehrjährigen Leidensgeschichte seiner Ehefrau ein politisches Signal setzen. Darum bittet er offiziell um die Zuteilung eines tödlichen Medikamentes. Gibt es ein Recht darauf? Soll ein Mensch Anspruch darauf haben, dass ihm Ärzte dabei helfen, sein Leben zu beenden?
Die erste Sachverständige ist Professorin für Verfassungsrecht und zugleich als Richterin tätig (Christiane Paul). Sie erläutert die Rechtslage in Deutschland und erklärt dabei die vier rechtlich zu unterscheidenden Formen der Sterbehilfe.
Die aktive Sterbehilfe meint alle Szenarien, in denen der Arzt den Tod des Patienten herbeiführt, zum Beispiel indem er ein tödliches Medikament verabreicht. Vorausgesetzt ist dabei natürlich immer der entsprechende Wunsch des Patienten. Dieses „Sterben auf Verlangen“ ist und bleibt in Deutschland verboten.
Erlaubt hingegen ist die indirekte Sterbehilfe. Das bekannteste Beispiel dafür ist, in einer fortgeschrittenen Phase des Krankheitsverlaufes schmerzlindernde Medikamente, die ab einer bestimmten Menge tödlich wirken (wie etwa Morphium) bewusst so zu dosieren, dass der Tod des Patienten indirekt befördert wird.
Eng damit verwandt und ebenfalls erlaubt, ist die passive Sterbehilfe, heute zumeist „Behandlungsabbruch“ genannt. Aufgrund einer vorliegenden Patientenverfügung oder des Wunsches der Angehörigen kann auf lebenserhaltende Maßnahmen verzichtet werden. Der Volksmund spricht hier vom „Abschalten der Geräte“.
Die letzte und brisanteste Methode der Sterbehilfe ist die Beihilfe zum Suizid. Allein um dieses Thema und diese Form der Sterbehilfe drehen sich das Theaterstück, der Film und auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes aus dem Februar. Nachdem sie einige absurde Grenzfälle erörtert hat, wann die Beihilfe zum Suizid straffrei bleiben kann, weist die Verfassungsrechtlerin auf den entscheidenden Punkt hin. Aus Sorge vor bestimmten Szenarien war in Deutschland seit 2015 die geschäftsmäßige Sterbehilfe verboten. „Geschäftsmäßig“ meint dabei die kostenpflichtige Dienstleistung, wie sie von einigen Organisationen in der Schweiz angeboten wird. (Alleine „Exit“ hat in den vergangenen Jahren über 3.000 Menschen beim Suizid assistiert.) Die Gefahr liegt auf der Hand: das wirtschaftliche Interesse könnte zu einer Beratungshaltung führen, die den Sterbewunsch eher befördert. Dieses Gesetz nun wurde vom Bundesverfassungsgericht gekippt. Warum? Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst das Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben. Dieser Akt der autonomen Selbstbestimmung darf nicht beschnitten oder reguliert werden. Darum darf jeder, der das will, diejenige Hilfe in Anspruch nehmen, die er oder sie in Anspruch nehmen möchte.
Fraglich sind nun natürlich die Konsequenzen. Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich festgehalten, dass weder das Alter noch der Gesundheitszustand des Sterbewilligen einen Einfluss auf die Entscheidungen haben dürfen. Insofern dürfte auch eine völlig gesunde 30-jährige Sterbehilfe in Anspruch nehmen.
Die Befragung des zweiten Sachverständigen, Professor der Medizin und Mitglied der Bundesärztekammer, (Götz Schubert), vertieft das Dilemma. Kann aus dem Recht des Sterbewilligen auf assistierten Suizid die Pflicht des Arztes abgeleitet werden, dies persönlich zu tun? Wie zu erwarten wird hier betont, dass der hippokratische Eid den Mediziner verpflichtet, dem Leben und dessen Erhaltung zu dienen. Dieser Gegner der Beihilfe zum Suizid argumentiert auch mit den Fortschritten der Palliativmedizin in der jüngeren Vergangenheit. In aller Regel sind gegenwärtig Ärzte in der Lage, Schmerzen zu vermeiden oder zumindest zu reduzieren. Sein stärkstes Argument ist wahrscheinlich die Frage nach der Signalwirkung der Debatte für Menschen, die hauptamtlich oder ehrenamtlich (z.B. in Hospizen) in der Sterbebegleitung engagiert sind. Diese Begleitung hat eben eine würdige Wahrnehmung des Sterbeprozesses und nicht dessen Abkürzung zum Ziel.
Besonders eindrucksvoll ist nun die Befragung des dritten und letzten Sachverständigen, eines katholischen Bischofs und Mitglied der Glaubenskongregation (Ulrich Matthes). Ihm gelingt es im Kreuzfeuer des Rechtsanwaltes des Sterbewilligen (Lars Eidinger) nicht, seine Argumente ernsthaft in die Waagschale zu werfen.
Das liegt zum einen daran, dass philosophische und theologische Argumente häufig in Kontexte und Zusammenhänge gehören, die nicht in zwei oder drei Sätzen zu skizzieren sind. Das liegt aber auch daran, dass sich der Bischof quasi ausschließlich auf die theologische Tradition von Augustin über Thomas von Aquin bezieht. Diese wirkt bis in neuzeitliche Katechismen und vertritt eine strikte Ablehnung des Selbstmordes mit Annahmen, die für zeitgenössische Menschen nicht immer nachvollziehbar sind und schon gar nicht Teil ihres Lebensgefühls. Sehr oberflächlich bleibt der kurze Disput zum Thema „Erbsünde“. Was bedauerlicherweise gar nicht entfaltet geschweige denn korrekt dargestellt wird, ist die sehr differenzierte Bewertung des Selbstmordes in der Philosophiegeschichte. In allen Epochen, gibt es neben strikten Gegnern der Selbsttötung immer auch Befürworter eines selbstbestimmten Todes.
Wie auch immer. Jede(r) Zuschauer(in) ist am Ende aufgefordert, selbst zu entscheiden: Hat der antragstellende Witwer das Recht darauf, dass ihm das tödliche Medikament verordnet und ausgehändigt wird? Eine Abstimmung der ZuschauerInnen im Anschluss an die Ausstrahlung ergab ein sehr klares Bild: 70 % befürworteten das Ansinnen des Antragstellers und also die Beihilfe zum Suizid.
Wie immer, wenn Ferdinand von Schirach ethische Dilemmata inszeniert, bleiben am Ende Fragen. Wie wollen und können wir das Verhältnis von rechtlichen Fragestellungen zu ethisch-moralischen Fragestellungen bewerten? Warum werden Protestanten und vor allem protestantische Theologen wahrscheinlich überwiegend zu den 30 % der Menschen gehören, die dem Ansinnen des Antragstellers nicht stattgeben würden? Gibt es so etwas wie einen Leitfaden im Umgang mit Sterbewilligen? Kann oder muss Theologie von den sehr differenzierten Argumentationen der Philosophen lernen? Oder müssen wir eher in die Schule der Geschichte gehen und wahrnehmen, wie die Ausgrenzung von Selbstmördern (Stichworte: Beerdigungsverbot / Exkommunikation also Ausschluss aus der Gemeinschaft schon beim Versuch der Selbsttötung / Verfall des Eigentums des Selbstmörders an den Staat) unsägliches Leid über ohnehin belastete Biografien brachte? Gibt es Unterschiede zwischen einer katholischen und einer protestantischen Betrachtung des Phänomens? Ist die dargestellte konkrete juristische Frage mehr als nur die Spitze eines Eisberges? Wie kann der Missbrauch der Beihilfe zum Suizid verhindert werden? Wie ist zu vermeiden, dass aus der Freiheit zur Selbsttötung so etwas wie eine Erwartungshaltung an schwerkranke Menschen erwächst? Wie verhindern wir, dass aus der Freiheit ein Zwang wird? Können allgemeine Überlegungen die Übernahme konkreter Verantwortung in konkreten Situationen ersetzen? Ist es vielleicht an der Zeit, über die Bedeutung des Leidens ganz neu nachzudenken?
In den kommenden Wochen werden von verschiedenen Theologen und Theologinnen des Kirchenkreises diese und andere Fragen an dieser Stelle weiter erörtert werden. Die Wartezeit bis dahin können Sie sich verkürzen mit der Lektüre des Buches von Ferdinand von Schirach (erschienen im Luchterhand Verlag), durch einen Besuch in der Mediathek der ARD oder durch die betreffende DVD. Diese Verkürzung einer Zeit des Wartens kann unbedingt befürwortet und empfohlen werden.
Quelle der Szenenfotos: DVD „Gott“, Constantin Film