„Fern im Morgenland“

Heinrich Heine und die Utopie

von Dr. Karin Füllner

Ein Fichtenbaum steht einsam
Im Norden auf kahler Höh‘;
Ihn schläfert, mit weißer Decke
Umhüllen ihn Eis und Schnee.

Er träumt von einer Palme,
Die, fern im Morgenland,
Einsam und schweigend trauert
Auf glühender Felsenwand.

Das Weihnachtsfest nähert sich, der Fichtenbaum, auch Eis und Schnee sind nicht mehr fern. Fern indes ist die Palme, zumindest Heine war sie vor 200 Jahren fern, als er dieses weltberühmt gewordene Gedicht geschrieben hat: „fern im Morgenland“. Das gab es nur in Heines Imagination, das gab es in den Schriften und Gedichten seiner Zeitgenossen, denken Sie nur an Goethes „West-östlichen Divan“, das gab es in den Märchen aus „Tausend und einer Nacht“ und in den neu ins Deutsche übersetzten großen arabischen Poesien. Kein Flieger führte vor 200 Jahren dorthin, das Morgenland war den meisten Menschen ein Traumland, der „heitere Orient“, wie Heine schreibt, war dem „ernsten Abendlande“ ein Sehnsuchtsort.

Das berühmte 1822 entstandene Gedicht widmet der inzwischen längst in Frankreich lebende Dichter 22 Jahre später seiner kleinen 15-jährigen Nichte Anna am letzten Tage seines Familienbesuches in Hamburg mit der rührenden Unterschrift:

„Der Anblick dieser Zeilen, liebes Kind, möge Dir immer in heiterer Erinnerung bringen Deinen Oheim H. Heine. Hamburg d 9 October (am Tage meiner Rückreise nach Paris) 1844“.

Wohin wünscht sich Heine? Wo ist der schönste Ort: in Hamburg, in Paris?

Vor genau 200 Jahren, also ebenso 1822, als das Gedicht von Fichtenbaum und Palme entstanden ist, gibt der junge Heinrich Heine die Antwort: „an den Fluren des Ganges, dort weiß ich den schönsten Ort“. Kongenial vertont der junge Felix Mendelssohn-Bartholdy dieses Gedicht und so wird „Auf Flügeln des Gesanges“ auch zu einem berührenden, berühmten, weltweit gesungenen Lied.

Blicken wir auf der Suche nach dem „schönsten Ort“ zunächst auf die realen Orte in Heines Leben: Hamburg, Berlin, Göttingen, Paris und Düsseldorf. Die spitze Zunge von Heinrich Heine ist Ihnen, denke ich, bekannt. Über Hamburg spricht er nach der unglücklichen Amalienliebe, nach den vergeblichen Hoffnungen, sich dort als Anwalt niederzulassen, äußerst despektierlich, Hamburg ist für Heine durchaus kein Sehnsuchtsort mehr:

Himmel grau und wochentäglich!
Auch die Stadt ist noch dieselbe!
Und noch immer blöd und kläglich
Spiegelt sie sich in der Elbe.

Ebenso negativ spricht er über seine Lebens- und Universitätsorte: Berlin, das eigentlich gar keine Stadt sei, sondern nur den Ort dazu hergebe, wo sich eine Menge Menschen versammeln, und Göttingen, das er zwar als Stadt anerkennt, aber als eine, die berühmt ist durch ihre Würste und Universität und die einem am besten gefalle, wenn man sie mit dem Rücken ansieht.

Umso bemerkenswerter ist es, dass Heine über seine Geburtsstadt Düsseldorf und über seine Sterbestadt Paris nur lobend spricht. Als er 1831 nach der Julirevolution in die Weltstadt Paris kommt, hat er im Trubel des politischen und gesellschaftlichen Treibens das Gefühl, die Erfüllung eines Traums zu erleben, ähnlich wie die soeben mit dem höchsten deutschen Literaturpreis ausgezeichnete Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar, die – in der Türkei geboren – im Paris der 1970er Jahre die große Freiheitserfahrung genoss. Sehnsüchtig schreibt sie im Rückblick von heute aus in ihrem neuen Roman „Ein von Schatten begrenzter Raum“: „Aber jetzt, siebenunddreißig Jahre früher, sah das Leben in Paris so aus, als ob die Hölle hier eine Pause gemacht hätte.“ Heine vergleicht wiederum 140 Jahre früher sein Leben in der Stadt der Julirevolution mit dem berühmten Fisch im Wasser: „Fragt Sie jemand wie ich mich hier befinde, so sagen Sie wie ein Fisch im Wasser. Oder vielmehr sagen Sie den Leuten, dass, wenn im Meer ein Fisch den anderen nach seinem Befinden fragt, so antwortet dieser: ich befinde mich wie Heine in Paris.“ Die Faszination der französischen Metropole bleibt dem Dichter sein Leben lang erhalten: „Warum übt Paris einen solchen Zauber auf Fremde, die in seinem Weichbild einige Jahre verlebt? Viele wackere Landsleute, die hier sesshaft, behaupten, an keinem Ort der Welt könne der Deutsche sich heimischer fühlen als eben in Paris, und Frankreich selbst sei am Ende unserm Herzen nichts anderes als ein französisches Deutschland.“ „Paris“, so sagt er, „ist nicht bloß die Hauptstadt von Frankreich, sondern der ganzen zivilisierten Welt.“

Und Düsseldorf? Die berühmte Hommage an seine Geburtsstadt, mit der Düsseldorf sich sehr gern schmückt, kennen Sie sicher alle:

„Die Stadt Düsseldorf ist sehr schön und wenn man in der Ferne an sie denkt und zufällig dort geboren ist, wird einem wunderlich zu Muthe. Ich bin dort geboren, und es ist mir, als müßte ich gleich nach Hause gehn. Und wenn ich sage nach Hause gehn, so meine ich die Bolkerstraße und das Haus, worin ich geboren bin.“

Da ist kein Funken Spott, die Erinnerungen sind zum Teil wehmütig, zum Teil schmerzlich, zum Teil auch pathetisch überhöht. „Aus den frühesten Anfängen erklären sich die spätesten Erscheinungen“, schreibt der Dichter in seinen Memoiren und eine der entscheidenden frühen Düsseldorf-Erfahrungen, die sein späteres Leben geprägt haben, möchte ich Ihnen hier vorstellen, führt sie uns doch zum „schönsten Ort“, fern ins Morgenland, zur Utopie.

Es beginnt damit, dass die Mutter ihn die Buchstaben mit Kreide auf die braune Türe schreiben lehrt, es ist die Prägung durch die Düsseldorfer Schulzeit, aber es ist vor allem der geheimnisvolle Morgenländer, ein Onkel seiner Mutter, von dem die alten Muhmen erzählen, er habe „große Reisen im Oriente gemacht und sich bei seiner Rückkehr immer in orientalische Tracht“ gekleidet. „Eine rätselhafte Erscheinung“, „eine wunderliche Existenz“, so charakterisiert ihn Heine in seinen Memoiren: „Er war halb Schwärmer, der für kosmopolitische, weltbeglückende Utopien Propaganda machte, halb Glücksritter, der im Gefühl seiner individuellen Kraft die morschen Schranken einer morschen Gesellschaft durchbricht“. Als der junge Harry auf dem Dachboden der Arche Noah inmitten der Düsseldorfer Altstadt in der Mertensgasse in alten Schriften des Großoheims liest, scheint ihm „alles von einem phantastischen Lichte übergossen“ und die Dachkammer verwandelt „sich in einen prachtvollen Palast, wie es in allen Zaubergeschichten zu geschehen pflegt“. Der Morgenländer regt die Fantasie des Kindes an, bringt ihn zum Träumen und lässt ihn die Faszination der Literatur erleben. Eine neue Welt tut sich auf, in der unmöglich Geglaubtes möglich scheint. Das ferne Morgenland wird zum Traumland. In seinen Träumen identifiziert sich der kleine Harry mit dem Morgenländer und wird selbst zum Ritter, der Gesellschaftsschranken überwindet und mit seiner orientalischen Kleidung die Frauen bezirzt. Das alles vermag die Literatur. Es sind diese frühesten Anfänge der Düsseldorfer Kinderjahre, die die späteste Erscheinung des Dichters prägen.

In den 1820er Jahren, geschult an den Übersetzungen arabischer Texte, die Heine interessiert studiert, finden die morgenländischen Requisiten Eingang in seine Liebeslyrik: Palmen, Kamele, Elefanten und immer wieder Lotosblumen und die Ufer des Ganges. Und vor genau 200 Jahren, 1822 entsteht das Gedicht „Auf Flügeln des Gesanges“ und Mendelssohn vertont es, als es im „Buch der Lieder“ erscheint.

Auf Flügeln des Gesanges,
Herzliebchen, trag‘ ich dich fort,
Fort nach den Fluren des Ganges,
Dort weiß ich den schönsten Ort.

Dort liegt ein rothblühender Garten
Im stillen Mondenschein;
Die Lotosblumen erwarten
Ihr trautes Schwesterlein.

Die Veilchen kichern und kosen,
Und schau’n nach den Sternen empor;
Heimlich erzählen die Rosen
Sich duftende Mährchen in’s Ohr.

Es hüpfen herbei und lauschen
Die frommen, klugen Gazell’n;
Und in der Ferne rauschen
Des heiligen Stromes Well’n.

Dort wollen wir niedersinken
Unter dem Palmenbaum,
Und Liebe und Ruhe trinken,
Und träumen seligen Traum.

Das Lied entführt uns in fernindische erotisch-exotische Mondnächte und selige Träume, in ein Sehnsuchtsland, in dem wir Liebe und Ruhe trinken können. Die imaginierte Ferne ist real indes zumeist eine völlig andere geworden. Wenn die in Teheran geborene, als Baby mit ihren Eltern nach Deutschland geflüchtete Schriftstellerin Asal Dardan von den Popliedern spricht, die ihre Eltern hörten, Popmusik aus der Zeit vor der Revolution, so ergreift sie eine Sehnsucht nach „dem Land, das weg war, zu den Menschen, den Gerüchen und dem Alltag“, den ihre Eltern vermissten: „Die Kontexte waren mir unbekannt, aber die Musik pflanzte mir eine fremde Sehnsucht ein, Sehnsucht nach etwas, das nicht mehr meins war, aber meins hätte sein können“. Als Heine bei seiner Englandreise europa-müde im Londoner Hafen am hellichten Tage die Ostindienschiffe beobachtet, erfreut und erfrischt ihn das heitere reale Orientbild, das ihm das geschäftige Treiben an den indischen Docks bietet, und lässt wieder das fabelhaft fantastische Sehnsuchtsbild aufscheinen :

„Alles das erregte in mir ein Gefühl wie Verzauberung, ich war plötzlich wie versetzt in Scheherezades Mährchen, und ich meinte schon, nun müßten auch breitblättrige Palmen und langhälsige Kameele und goldbedeckte Elephanten und andre fabelhafte Bäume und Thiere zum Vorschein kommen. […]

Des dumpfen abendländischen Wesens so ziemlich überdrüssig, so recht Europa-müde wie ich mich damals manchmal fühlte, war mir dieses Stück Morgenland, das sich jetzt heiter und bunt vor meinen Augen bewegte, eine erquickliche Labung, mein Herz erfrischten wenigstens einige Tropfen jenes Trankes, wonach es in trübhannövrischen oder königlich preußischen Winternächten so oft geschmachtet hatte“.

Sehnen wir uns aus deutschen Winternächten mit unserem nordischen Fichtenbaum auch in das Land der Palmen? Vielleicht nicht gerade nach Katar, aber Sehnsuchtsorte in der Fremde wird es immer geben. Indes geht es bei Heine nicht nur um Fluchtbewegung. Die Fremde ist immer auch Verkleidung, ist Maskerade und Spiel, das es möglich macht, Unsagbares zu sagen. Das hat er von seinem geheimnisvollen Großoheim, dem Morgenländer, gelernt. Schmerzhafte Erfahrungen versagter Liebe lassen sich im orientalischen Mantel leichter erzählen, so wie es Heine virtuos in seinem Düsseldorf-Buch „Ideen. Das Buch Le Grand“ vorführt. Er erzählt uns die Liebesgeschichte des Grafen vom Ganges, um sein eigenes Liebesleid zu verschleiern. Er erzählt von idyllisch harmonisch belebter Natur und duftenden Blumen an den Fluren des Ganges, um uns schließlich an den schönen Rhein und nach Düsseldorf zu führen.

Schon der junge Student Harry Heine ist Deutschland-müde und sehnt sich in die Fremde. An einen guten Freund schreibt er, er wolle Deutschland verlassen, nach Arabien fahren und ein idyllisches Leben führen. „Ich werde ein Mensch im wahrsten Sinne des Wortes sein, ich werde unter Kamelen leben […] und arabische Verse schreiben, so schön wie die Mu’allaqat.“ Unter einer Palme am Jordan wolle er begraben sein. Nicht nur die Orte, auch die Zeiten reichen in fantastische Räume und auch die jüdische Konnotation ist dem Orient sehr nah. Das Morgenland wird zum Garten Eden, das Morgenland evoziert eine Rückkehr zum Urzustand des Menschen, zum Goldenen Zeitalter, ein utopischer Wunsch, den letztlich nur die Kunst erfüllen kann. Heine gelingt es als Dichter.

Düsseldorf ist für Heine nicht der schönste Ort, ich denke, das haben Sie auch nicht erwartet. Aber Düsseldorf ist eine sehr schöne Stadt, wie er sagt, in der er seine wichtigsten Erfahrungen gemacht hat. Nur mit diesen Prägungen konnte er zum politisch engagierten, sich zeitlebens für die Rechte der Unterdrückten einsetzenden und ungemein anregenden, fantasiebegabten Dichter werden, der uns „auf Flügeln des Gesanges“ Räume eröffnet, selbst nach unseren eigenen Utopien zu suchen.

Foto: Benrather-Literaturkreis e.V.

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