
Am gestrigen Jom Hashoah, dem jüdischen Holocaust-Gedenktag, wird der ermordeten Jüdinnen und Juden gedacht. In diesem Blog soll von einem berichtet werden, der überlebt hat, weil er zu den ganz wenigen gehörte, denen die Flucht aus dem Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek gelang und schon Anfang 1943 in die Schweiz fliehen konnte.
Im Februar 1943 erreichte ein Ehepaar die Schweiz, von dem der Mann angab, aus Majdanek geflohen zu sein. Anders als in seinen Papieren angegeben heiße er Robert Eisenstädt, seine Frau (sie betrachteten sich als verheiratet, auch wenn sie nicht hatten heiraten können) heiße Eva Müller. Er habe 1942, mit Erhalt des Deportationsbescheides untertauchen wollen, doch hätten seine potentiellen Helfer, auch aus der Familie seiner Frau, kalte Füße kommen, so dass er sich schließlich, einvernehmlich, aber unter Tränen, von ihr verabschiedet hatte und ordnungsgemäß am 30. Juni 1942 zum Sammelpunkt erschienen war. Nach längerem Zwischenhalt in Kassel fuhr der Zug nach Polen, wo trotz großer Hitze verdunkelt werden musste und eine Öffnung der Fenster verboten war; in Lublin musste er mit allen anderen 15 bis 50jährigen Männern den Zug verlassen. Während der Zug seine Fahrt mit den verbliebenen Menschen in Richtung eines ihm unbekannten Ziels fortsetzte [Sobibor] wurden die arbeitsfähigen Männer durch SS-Leute vom Bahnhof Lublin in ein „großes Barackenlager“ [Majdanek] getrieben; zwei Männer brachen unterwegs zusammen, blieben liegen und wurden erschossen.
In Majdanek wurde er vor der Revierbaracke eingesetzt:
„Wir mussten eine große Anzahl hoffnungsloser Kranker auf die Wagen legen und vor das Krematorium fahren. Manche lagen in ihren letzten Zügen. Die Leichenträger holten die Kranken ab und brachten sie zum Verbrennen. Die herzzerreißenden Hilferufe der dem Verbrennungstod überlieferten waren furchtbar und stellten alles bis dahin Erlebte in den Hintergrund.“[1]
Eisenstädt wurde geschlagen und schwer misshandelt – so sehr, dass er später in der Schweiz mit nur leidlichem Erfolg mehrfach am Rücken operiert werden musste. Dennoch gelang es ihm, eine zivile Hose zu stehlen und über einen vier Meter hohen Stacheldraht zu klettern. Unter denen, die er zurückließ, war sein Bruder, der eigentlich mit ihm hatte fliehen wollen, was aber nicht glückte. „Als ich durch Lublin ging, dachte ich an alle, die vielleicht die ganze Nacht im Freien stehen mussten für mich. Ich wusste aber, dass sie gerne standen, wenn ich mich retten konnte.“ Es gelang ihm, sich von Lublin bis nach Frankfurt a.M. durchzuschlagen, wo er am 22. Juli 1942 als „lebendiger Leichnam“ (Selbstbezeichnung) bei seiner Frau ankam, ebenfalls jüdisch. Das Paar lebte ein halbes Jahr auf dem Dachboden bei einem Arzt (Dr. Eugen Kahl). Bekannte, vor allem der „Pfarrverweser“ Heinz Welke (Bekennende Kirche), vermittelten gefälschte Pässe, die ihn als „Wilhelm Stiheler“ und sie „Tilla Glössing“ auswiesen. Welke besaß Kontakte zur Schweiz, vor allem zu Brigitte Freudenberg der Tochter Adolf Freudenbergs, vom Flüchtlingsreferat des entstehenden Weltkirchenrates, und riet zu einer Schwangerschaft, da Schwangere und ihre Ehepartner nicht aus der Schweiz nach Deutschland abgeschoben würden. Im Februar 1943 kletterten beide, sie endlich schwanger, über einen „achtfachen Stacheldrahtzahn“ bei Stein am Rhein in die Schweiz. Mündlichen Berichten zufolge sprachen die Theologen Karl Barth und Adolf Freudenberg Garantien für ihren Verbleib in der Schweiz gegenüber den dortigen Behörden aus. Nach vier Tagen Wartens wurden sie ins staatliche Genfer Übergangslager „Camp des Charmilles“ (auch „Camp de transite ou de triage“) überführt, dessen Flüchtlingsakten schon Anfang der fünfziger Jahre nicht mehr aufzufinden waren, weshalb der Vorgang von Seiten der Schweizer Behörden heute nicht mehr nachzuvollziehen ist.
Freudenberg vom Weltkirchenrat und Gerhart Riegner vom Jüdischen Weltkongress befragten gemeinsam das ihnen unbekannte Ehepaar Eisenstädt noch im Lager Charmilles, hielten die Schilderungen für glaubwürdig und scheinen Robert Eisenstädts Bericht auch in eine schriftliche Form gebracht zu haben. Riegner fertigte eine englische Übersetzung an („Autobiographical memoir, by Robert Eisenstaedt, on events in Hanau and Frankfurt, the Buchenwald and Lublin concentration camps, and his final escape to Switzerland, February 1943“ und schickte sie in die USA.[2] Sobald das wieder möglich war, weil die Zensurbestimmungen gelockert wurden, veröffentlichte Freudenberg den Bericht auf Deutsch in der Schweiz, den ersten Teil (bis Majdanek) 1944 anonymisiert in einem vom Hilfswerk für die Bekennende Kirche herausgegebenen Sammelband, den zweiten über Majdanek 1945 in einem Sammelband der Zentralstelle für Flüchtlinge in der Schweiz, jetzt schon unter Eisenstädts Namen. Eisenstädts sehr viel späteren Erinnerungen zufolge war 1943 sein Bericht im State Department im Washington ebenso wenig beachtet worden wie Riegners sonstige Meldungen (vor allem das heute berühmte Telegramm vom August 1942). In der Schweiz wurde dann Eisenstädt in ein anderes Flüchtlingslager verlegt, nach Adliswil bei Zürich, von wo aus Flüchtlingspfarrer Paul Vogt einen Freiplatz im Pfarrhaus von Karl Barths Sohn Markus Barth und dessen Ehefrau Rose Marie Barth-Oswald organisierte. „Ich hatte das Gefühl, dass die Barths keine andere Wahl hatten, als zu akzeptieren“, fasste Robert Eisenstädt das später zusammen, nachdem sich die Ehepaare Barth und Eisenstädt beim Zusammenleben auf engem Raum gründlich verkracht hatten. Nichtsdestotrotz: Ehepaar Eisenstädt überlebte: Im Juli 1943 gebar Eva Müller eine Tochter, Maria Adina. 1947 wanderte Familie Eisenstädt in die USA aus. Sie starb 1973, er 1996.
Quellen
Teil I des Deportationsberichtes: Hilfswerk, Schweizer evangelisches, für die Bekennende Kirche in Deutschland mit Flüchtlingsdienst (Hg.) Soll ich meines Bruder Hüter sein? Weitere Dokumente zur Juden- und Flüchtlingsnot unserer Tage, Zollikon-Zürich 1944, 34-40.
Teil II des Deportationsberichtes: Zentralstelle für Flüchtlingshilfe, „Ich war ein Mensch wie Du“. Schicksale verfolgter Menschen. Zusammengestellt auf Grund authentischer Tatsachenberichte von E. Wiederkehr mit Kapitel-Einleitungen von Paul Vogt, Flüchtlingspfarrer, Zürich o.J. (1945), 56.
Kingreen Monica, Bericht von Robert Eisenstädt über die gewaltsame Verschleppung im Mai 1942, kommentiert von Monica Kingreen, in: Helmut Burmeister Michael Dorhs, Das achte Licht, Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte der Juden in Nordhessen, Hofgeismar 2002, 243-247.
Aufgeabeitet für den Schulunterricht (leider nur Teil I des Berichtes) https://arolsen-archives.org/content/uploads/online-it-quellenstudium-komplett-4-3-19.pdf S.33-36.
Teilbiographische Skizzen:
Bonavita, Petra, Mit falschem Pass und Zyankali.Retter und Gerettete aus Frankfurt am Main in der NS-Zeit 1. Auflage 2009., 17-23.
Rusterholz, Heinrich, „… als ob unseres Nachbarn Haus nicht in Flammen stünde“. Paul Vogt, Karl Barth und das Schweizerische Hilfswerk für die Bekennende Kirche in Deutschland 1937-1947, Zürich 2015.
Prominent erwähnt:
Rede von Professor Arno Lustiger bei der Gedenkstunde im Deutschen Bundestag zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus am 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz
https://webarchiv.bundestag.de/archive/2010/0702/presse/pressemitteilungen/2005/pz_0501271.html
[1] Vgl. Zentralstelle (1945), 56f. Dort das falsche Datum 3. Juli 1943, wohl für 3. Juli 1942.
[2] Vgl. Riegner-Findbuch USHMM RG-68.045M (C3/35).

