Geschichte der Zeit

Dr Dietrich Knapp
von Dr. Dietrich Knapp

Das alte Israel hat seit dem 6. Jh. v. Chr. Gott immer öfter als Schöpfer bekannt. Aus dieser Zeit gibt es eine Reihe von Texten, die die Welt als Schöpfung Gottes interpretieren. Der eindrucksvollste steht gleich am Anfang der Hebräischen Bibel (1. Mose 1,1-2,4a). Bekanntlich beginnt er mit den Worten: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“. Er wird in der Forschung seit langer Zeit als der priesterschriftliche Schöpfungsbericht bezeichnet, weil er in frühpersischer Zeit von Priestern verfasst worden ist. Letzten Endes werden hier keine naturwissenschaftlichen Aussagen gemacht. Dennoch sind Naturerkenntnisse aus der damaligen Zeit in diesen Bericht eingeflossen. Außerdem haben die Priester grundsätzliche Überlegungen über die Welt angestellt. In diesem Bericht wird deutlich, dass für diese Priester des alten Israel auch die Zeit etwas Geschaffenes ist. Zeit beginnt mit der Schöpfung, Zeit hat ihren Anfang am Anfang der Welt. Sicher haben die Priester das nicht so abstrakt gesagt, aber es ist doch deutlich zu erkennen, dass sie dieser Auffassung waren. So heißt es in 1. Mose 1,3-5:

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Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott sah, dass das
Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das
Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen ein Tag
(der erste Tag).


Die Trennung von Licht und Finsternis bringt die Unterscheidung von Tag und Nacht und somit eine erste zeitliche Differenzierung, ja das Phänomen von Zeit überhaupt. Claus Westermann schreibt in seinem klassisch gewordenen Kommentar zur Urgeschichte in Bezug auf die Benennung von Licht als Tag und Nacht als Finsternis durch Gott (Biblischer Kommentar AT I/1,158): „Alle folgenden Benennungen nennen etwas im Raum Vorhandenes; diese erste benennt die Grundeinheiten der Zeit.“ Auf diese Weise ist nun Zeit da; und von jetzt an kann sie weiterlaufen, voranschreiten. Westermann bemerkt zu der Zählung der Schöpfungstage, die hier beginnt (Biblischer Kommentar AT I/1,159): „Der das Tagewerk abschließende Satz, der dann nach jedem weiteren Tagewerk wiederkehrt, zeichnet in eindrücklicher Weise das Strömen, das Fließen der Zeit in regelmäßigen Rhythmen.“ Für die Priester ist es der Gott Israels, der den Zeitfluss in Gang gesetzt hat, der ganz zu Anfang die Zeit mit der Welt geschaffen hat. Dass diese Interpretation ihr Recht hat, wird auch im folgenden deutlich. In V. 14-15 ist von den Gestirnen die Rede, die die Funktion bekommen, die inzwischen voranschreitende Zeit einzuteilen:


Und Gott sprach: Es werden Lichter an der Feste des Himmels, die da schei-
den Tag und Nacht und geben Zeichen, Zeiten, Tage und Jahre und seien
Lichter an der Feste des Himmels, dass sie scheinen auf die Erde. Und es
geschah so.


Die Gestirne haben also zum einen Bedeutung für die Zeiteinteilung, für die Bestimmung von Tagen und Jahren, d.h. für die weiterlaufende Zeit, und zum anderen für die Zeitbestimmung der besonderen, der hervorgehobenen Jahresfeste. Damit hat nicht nur die Zeit an sich ihren Ursprung in der Schöpfung, sondern die Zeit als ganzes System geht auf Gottes Wirken am Anfang zurück. Er ist der Urheber alles dessen, was ist, und damit auch der Urheber der Zeit, die für diese Welt konstitutiv ist. Es ist deutlich, dass die Priester hier eine grundlegende Aussage zum Thema „Zeit“ gemacht haben, eine Aussage übrigens, über die sich auch heute nachzudenken lohnt.

In der modernen Kosmologie wird ebenfalls davon ausgegangen, dass das Phänomen „Zeit“ einen Anfang hat und von diesem Anfang her weiterläuft. Nach heutigen Erkenntnissen hat auch der Kosmos eine Geschichte. Ständig verändert er sich in der fortschreitenden Zeit. Es gibt keine Symmetrie zwischen Zukunft und Vergangenheit. Das alte Israel hat hier also mehr Impulse gegeben, als man zunächst annehmen könnte. Wenn es auch explizit nicht über die Zeit nachgedacht hat, so ist es doch geprägt von einem ganz bestimmten Zeitverständnis: Auch die Zeit hat eine Geschichte. Sie hat einen Anfang. Und von diesem Anfang her läuft sie kontinuierlich weiter. Einige Apokalyptiker vervollständigten in einer nicht kanonischen apokalyptischen Schrift im 2. Jh. v. Chr. diese Sicht, indem sie die Ansicht vertraten, dass Gott in nicht allzuferner Zukunft eingreifen und dann auch der Zeit, die bei ihnen bildhaft durch einen Zeitraum von 9 Wochen dargestellt ist, ein Ende setzen würde. Nach diesem Ende der Zeit würde Gottes Ewigkeit, symbolisch dargestellt im Bild der unendlich vielen Wochen, an die Stelle der Zeit treten. So heißt es in der Zehnwochenapokalypse aus dem äthiopischen Henoch: „Danach gibt es viele Wochen, deren Zahl kein Ende hat in Ewigkeit.“ In Gottes Ewigkeit befindet man sich dann ganz jenseits der Zeit.

2 Kommentare

  1. Winfried Heidemann

    Lieber Herr Knapp,
    ganz herzlichen Dank für Ihre bibelwissenschaftlichen Beiträge!
    Das Thema „Zeit“ hat mich seinerzeit in Ihrem Sprachkurs Hebräisch stark beschäftigt: Konjugationsformen, die zugleich die erzählte Vergangenheit ausdrücken (habe ich das richtig in Erinnerung?).
    Und dann der Zusammenhang zwischen den linearen Zeitvorstellungen – die wohl im alten Israel zuerst entwickelt wurdenn – als Grundlage für geschichtsphilosophische Vorstellungen vom Ziel der Geschichte: Das wäre viel Diskussionsstoff…
    Herzliche Grüße an alle Heiligen in der Stadtakademie (s. meinen Kommentasr zu Frau Kösters Beitrag über das Heilige).
    Winfried Heidemann

  2. Winfried Heidemann

    oh sorry, da ist etwas weggefallen:
    „…Konjugationsformen, die Zukunft und zugleich die Vergangenheit ausdrücken…“

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