Geschüttelt, nicht gerührt,

von Dr. Gabriela Köster

So will einer seinen Martini haben, den man kennt: Er heißt Bond, James Bond. Geschüttelt, viel zu wenig berührt – so leben viele zur Zeit, ob wir sie kennen oder nicht, zumindest die Singles.

Die Sorge um die Folgen der Pandemie schüttelt uns kräftig durch seit März – mit einer Pause von vier Monaten, von Muttertag bis zum 11. September, als die Infektionszahlen wieder hochgingen. Jetzt wird uns empfohlen, uns selbst einen persönlichen zweiten Lockdown zu verordnen. Ich hatte das für mich schon früher geplant, für mindestens bis Weihnachten. Auch wenn ich keinen Grund habe anzunehmen, dass es ab Weihnachten besser werden könnte. Mein Plan sieht vor: so wenig Menschen treffen wie irgend möglich, Einkäufe auf Lebensmittel – und Toilettenpapier natürlich – beschränken, in der Tram immer meine dichteste Maske tragen, ansonsten die anderen, Abstand, Händewaschen, keinen Raum betreten, wo Menschen keine Masken oder die Nase schamlos nackt tragen – alles wie bisher, nur noch etwas bewusster und konsequenter. Und endlich wollte ich mal das kleine Buch lesen, das ich mir schon vor Wochen für meine persönliche Anti-Corona-Hausapotheke beschafft hatte: „Umarme dich selbst! 5 Minuten Berührung für Gesundheit und Gelassenheit“.
„Berührung zu empfinden ist uns angeboren.“ Der Satz aus dem Buch klingt banal, aber gerade in diesem Jahr kann es Alleinlebenden vor lauter Social Distancing passiert sein, dass sie von niemandem mehr berührt worden sind, außer von ihrer Frisörin. Nicht zufällig erleben gerade die Gemälde des amerikanischen Malers Edward Hopper eine Renaissance. Besonders viele Menschen werden jetzt wieder angesprochen und berührt von seinen Gemälden, die von Leere und Einsamkeit erzählen. Das bekannteste ist dabei wohl „Nighthawks“ (Nachtfalken/Nachtschwärmer).

Edward Hopper, Art Institute of Chicago, public domain (Quelle: Wikimedia commons)

Vier Menschen in einer nächtlichen Bar, ein Einzelgast, ein Paar und der Barkeeper. Letzterer hält die 1,5 m Mindestabstand zu seinen Gästen ein, der Mann und die Frau zueinander nicht, aber sie leben ja vermutlich in einem Haushalt, da ist das erlaubt. Die Bar ist groß, um Aerosole braucht man sich also keine Sorgen zu machen. Auch berührt sich das Paar nicht oder nur unmerklich an den Händen – was haptisch aufs selbe hinausläuft. Ihre Beziehung zueinander scheint schon bessere Zeiten gesehen zu haben. Und scheint noch auf kommende wieder bessere Zeiten zu hoffen. Oder schließe ich mit der Vermutung nur von mir auf andere? Vielleicht ist der Barkeeper der Glücklichste auf dem Bild: zumindest weiß er, was er in dieser Bar überhaupt soll und wann seine Schicht zu Ende ist.
Dieses Bild und fast alle anderen von Edward Hopper drücken das vorherrschende Lebensgefühl sehr vieler Menschen im Jahr 2020 aus. Es wurde 1942 gemalt. Einsamkeit, fehlende Zugehörigkeit, Langeweile, vielleicht sogar Lebensüberdruss gab es zu allen Zeiten. Diese Phänomene hängen von vielfältigen Faktoren ab und können jeden Menschen befallen. Gerechterweise sind in besonders armen Ländern die Suizidraten niedriger als in den besonders reichen. Corona und seine direkten und indirekten Begleiterscheinungen bringen es an den Tag: Ungerechtigkeit, mangelnde Freiheit,  mangelnder Zusammenhalt in unserer Gesellschaft, in der EU und weltweit.

Eine Freundin schickte mir dieser Tage einen fiktiven Kurzdialog, der zum Lachen wäre, wenn er nicht eigentlich zum Weinen wäre: „Was denken Sie ist das größere Problem für unsere Gesellschaft: Unwissenheit oder Gleichgültigkeit?“ „Keine Ahnung; ist mir aber auch egal.“

Wer noch Zeitungen liest, Nachrichten und Podcasts hört, wer noch arbeitet (für Geld oder ehrenamtlich), wer noch zuhört, wer noch irgendetwas Hilfreiches für andere Menschen tut, dem/der ist es nicht egal. Aber manche der Nichtgleichgültigen sind trotzdem nach acht Monaten mit Corona langsam müde oder mürbe. Und wir haben ja noch nicht einmal Halbzeit. Vielleicht braucht man dann doch ein paar von den ganz selbstbezogenen Übungen aus dem oben erwähnten Büchlein, um das Berührtwerden nicht ganz zu verlernen. Nicht nur, um das eigene Immunsystem zu stärken, sondern um offen zu bleiben für die „Weltgemeinschaft“, für den intersubjektiven Gemeinsinn. Vielleicht braucht man auch was ganz anderes: ein paar Impulse von Hannah Arendt oder ein langes Telefonat mit einer klugen Freundin. Jede/r nach ihrer/“seiner Fasson“, wie jener Typ mit den Kartoffeln zu sagen pflegte.

Was denken Sie, ist die Welt nicht bald geschüttelt genug, um wieder gerührt zu werden vom Leben der anderen?

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