Glauben jenseits der Glaubenslehren

Dr. Martin Fricke
von Dr. Martin Fricke

Vor einigen Wochen schrieb ich in diesem Blog über den amerikanischen Philosophen John Rawls (1921-2002).[1] Sein Lebensthema war die Gerechtigkeit. Daneben hatte er eine Leidenschaft für die Dinge des Glaubens. Das ist bei Philosophen nicht unüblich. Allerdings reden sie nicht gerne darüber. Wer möchte schon in Verdacht geraten, die Kernkompetenz seiner Profession: den Gebrauch der reinen Vernunft, zu verraten. Für Rawls hingegen war es eben jene Vernunft, die den Glauben jenseits religiöser Glaubenslehren fundiert.

Wir finden diese Einsicht am Ende seiner kleinen, in den 1990er Jahren möglicherweise für seine Familie und Freunde verfassten Schrift „Über meine Religion“, die kürzlich auf Deutsch erschienen ist.[2] In ihr erzählt er einen Weg, der ihn von einem „konventionell religiösen“ Elternhaus zu einer vertieften Auseinandersetzung mit der christlichen Theologie führte. Zeitweise hat er sogar erwogen, Priester zu werden. Drei Ereignisse in der Zeit des Zweiten Weltkrieges veränderten seine religiösen Überzeugungen jedoch grundlegend.

Nachdem er sein Studium in Princeton mit einem Bachelor of Arts abgeschlossen hatte, war Rawls 1943 zur Armee gegangen. In der Pazifikregion diente er als Infanterist im Krieg gegen Japan. Hier erlebte er, wie ein lutherischer Pastor nach einem siegreichen Gefecht predigte, „Gott hätte unsere Kugeln auf die Japaner gelenkt, während er uns vor den ihren schützte“. Rawls empfand diese Aussage als abgrundtief falsch, erklärbar nur durch die Absicht, die eigenen Soldaten zu beruhigen. Aber „die christliche Glaubenslehre sollte man dafür nicht benutzen“.

Das zweite Ereignis, in Rawls´ eigenen Worten: „Deacon war ein großartiger Mann; wir wurden Freunde und teilten ein Zelt im Regiment. Eines Tages kam der First Sergeant [Oberfeldwebel] zu uns und suchte nach zwei Freiwilligen: einen, um mit dem Colonel japanische Siedlungen auszuspähen, den anderen, um im nahe gelegenen kleinen Feldhospital Blut für einen verwundeten Soldaten zu spenden. Wir meldeten uns beide, und wer was tun würde, hing von der richtigen Blutgruppe ab. Da meine die richtige war und Deacons nicht, ging er mit dem Colonel. Sie müssen dann von den Japanern entdeckt worden sein, denn bald flogen 150 Mörsergranaten in ihre Richtung. Sie sprangen in ein Schützenloch, wurden aber sofort getötet, als auch dort eine Granate einschlug. Ich war völlig am Boden zerstört und bekam den Vorfall nicht aus meinem Kopf.“

Schließlich erzählt Rawls von seiner ersten Begegnung mit Berichten amerikanischer Truppen, die auf die nationalsozialistischen Vernichtungslager gestoßen waren. „Ich begann mich zu fragen, ob Beten überhaupt möglich ist. Wie konnte ich beten und Gott für mich oder meine Familie oder mein Land oder irgend etwas anderes, was ich schätzte und mir wichtig war, um Hilfe bitten, wenn Gott Millionen von Juden nicht vor Hitler retten würde?“

Alle Ereignisse laufen auf je eigene Weise auf dieselbe Frage zu: Wenn unserem Menschsein einige fundamentale Vorstellungen von Gerechtigkeit zu eigen sind und diese im Willen Gottes gründen, wie kann die Geschichte, die wir erleben, dann Ausdruck dieses göttlichen Willens sein?

Das Ringen mit dieser Frage kann für Rawls weder voluntaristisch noch individualistisch aufgelöst werden. Den Tod der Feinde, das Sterben des Freundes oder die Ermordung der Jüdinnen und Juden als Handeln eines die Menschheit irgendwie erziehenden, züchtigenden oder strafenden Gottes zu interpretieren, ist zynisch. Zentrale christliche Glaubenslehren wie die Lehre von der Erbsünde oder die Prädestinationslehre hält Rawls daher – jedenfalls in ihren oberflächlichen Varianten –  für „moralisch falsch“, „in machen Fällen sogar abscheulich“. Ebenso lehnt er die von ihm ausgemachte christliche Tendenz zur Fokussierung auf die individuelle Erlösung und das persönliche Seelenheil ab. Wenn die Ideen von Gerechtigkeit und Recht, die der menschlichen Vernunft entspringen, mehr als nur schmückendes Beiwerk, vielmehr Fundamente gelingenden Lebens sind, können wir uns gar nicht als Einzelgänger begreifen, und unsere Sehnsucht nach Erlösung muss die Sorge um unser eigenes Schicksal überschreiten.

Genau hier aber sprudelt nach Rawls die Quelle für einen Glauben hinter den kirchlichen Glaubenslehren. Denn wenn die Werte der Gerechtigkeit überindividuell, nicht individuell beliebig gültig sind, müssen sie in einer Vernunft jenseits der unsrigen gründen. Rawls nennt sie die von Gottes Willen zu unterscheidende „Vernunft Gottes“. Der Wille Gottes mag uns rätselhaft bleiben und uns sogar zu seiner Leugnung führen. Nicht leugnen lässt sich jedoch die Existenz der Vernunft als eines fundamentalen Vermögens, Schlussfolgerungen in Bezug auf natürliche und soziale Tatsachen und ihre Zusammenhänge zu ziehen. Und zwar weder (in all´ ihrer Unvollkommenheit) für uns noch über unsere individuelle Existenz hinaus für Gott. Denn mit der Leugnung der Vernunft Gottes würden wir auch ihre Werte leugnen. Umgekehrt aber ist alles, womit wir Recht und Gerechtigkeit verwirklichen, der Versuch, mit der „göttlichen praktischen Vernunft“ in Einklang zu sein.

Die Geschichte, die wir erleben, so Rawls, ist niemals per se ein Ausdruck des Willens Gottes. Doch wie wir sie gestalten, kann ein Ausdruck der „göttlichen praktischen Vernunft“ sein. „Atheismus“, schreibt er am Ende seiner kleinen Schrift „Über meine Religion“, wäre „eine Katastrophe“. Denn er leugnet die Existenz einer überindividuellen, göttlichen Vernunft. Aber „der Nontheismus ist vereinbar mit dem religiösen Glauben; und sogar der Atheismus muß toleriert werden, denn in Religionen sind Überzeugungen nicht strafbar; strafbar können nur Taten sein“.

Ich bewundere diesen Philosophen, der in der Vernunft einen Glauben jenseits der Glaubenslehren zu fundieren suchte und das Konzept einer umfassenden Gerechtigkeit nicht preisgegeben hat. Einen Glauben und ein Konzept, das die Rätsel, an denen sich unser Herz und unser Verstand wundreiben, ebenso ernstnimmt wie die Wunder, die unsere Seele erheben. Leider war er möglicherweise dann doch allzu ausschließlich Philosoph – sonst hätte er eine zweite Quelle für einen Glauben hinter den Lehren nicht übersehen: die biblischen Weisungen des Ersten und Zweiten Testamentes nämlich. Sie sind ja nichts anderes als Rufe, der Gerechtigkeit Gottes zu entsprechen. Aber das ist eine andere Geschichte. Oder dieselbe, nur anders erzählt.

Seien Sie behütet!

Martin Fricke.


[1] https://himmelsleiter.evdus.de/fairness-ein-gedankenexperiment/.

[2] In: John Rawls, Über Sünde, Glaube und Religion, herausgegeben von Thomas Nagel, mit einem Nachwort von Jürgen Habermas, stw 2333, Frankfurt a.M. 2021, Seiten 301-312; alle Zitate ebd.

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