Heinrich Heine und die rosarote Brille

von Dr. Karin Füllner

Ein kleiner Heine-Text lässt mich schon seit langem nicht mehr los. Er erzählt von einem Pariser Theaterbesuch: „Ich kam nemlich hinter eine Dame zu sitzen“, heißt es da, „die einen Hut von rosarother Gace trug, und dieser Hut war so breit, daß er mir die ganze Aussicht auf die Bühne versperrte, daß ich alles was dort tragirt wurde nur durch die rothe Gace dieses Hutes sah, und daß mir also alle Greul … im heitersten Rosenlichte erschienen. Ja, es giebt in Paris ein solches Rosenlicht, welches alle Tragödien für den nahen Zuschauer erheitert, damit ihm dort der Lebensgenuß nicht verleidet wird.“

Was ist das Faszinierende an dieser Passage? Was macht ihre Poesie und ihre unglaubliche Sogwirkung aus? Heinrich Heine hat den Text Mitte der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts geschrieben. Er ist also bald 200 Jahre alt und dennoch überrascht er mit einer ungeheuren Aktualität. Wünschen wir uns nicht auch heute eine rosarote Brille gegen die Schrecknisse dieser Welt? Möchten wir nicht „la vie en rose“ genießen, wie es Edith Piaf vor hundert Jahren besungen hat? Die Geschichte dieses Theaterbesuchs stellt Heine uns nicht als sein eigenes Erlebnis vor, sondern lässt sie von Maximilian, seinem alter Ego in der Erzählung „Florentinische Nächte“, vortragen. Wie in „Tausendundeine Nacht“ Schehezerade zum eigenen Überleben, so erzählt Maximilian der todkranken Maria Geschichten, um sie am Leben zu erhalten. Krankheit, Tod und der Wunsch, mithilfe der Literatur zu überleben, spielen also eine zentrale Rolle. Zum anderen geht es um Schrecken und Widernisse des öffentlichen Lebens: um Revolutionen, Umwälzungen, Pogrome, Aufstände und Kriege, „Weltkuddelmuddel“, wie der späte Heine schreibt. Auch das führt zu Verletzungen und Tod und wir suchen nach Schutz, wollen nicht mehr hinsehen, wünschen uns Distanz und zumindest einen geschützten Blick. So lässt heute Maria Bidian in ihrem Roman „Das Pfauengemälde“ ihre Protagonistin eine Sonnenbrille anziehen, als sie sich auf die Reise nach Rumänien in das Land ihres toten Vaters macht.

Heine erzählt von einem Theaterbesuch und setzt damit Welt und Bühne parallel. „Ganz Paris ist ein Theater und das Stück heißt ‚C‘est la vie‘“, auch das kennen wir von Edith Piaf, dem Spatz von Paris.

Bei Heine geht es um die Aufführung eines zeitgenössisch äußerst erfolgreichen Theaterstücks von Alexandre Dumas, von dem wir heute vor allem noch „Die drei Musketiere“ und den „Graf von Monte Cristo“ kennen. 1832 war das Pariser Publikum fasziniert von „La tour de Nesle“, einem blutrünstigen Theaterstück, das in romantischer Manier wie Victor Hugos „Glöckner von Notre Dame“ im späten Mittelalter spielt. Dumas bringt einen historischen Stoff auf die Bühne und lässt Marguerite de Bourgogne nach Liebesorgien im Pariser Turm von Nesle ihre Liebhaber umbringen. Auch ihre beiden Söhne sind darunter. Offensichtlich wollte man solche Schauergeschichten sehen, man liebte das Mittelalter, weil es weit genug weg war. Heine aber beschreibt die Dankbarkeit Maximilians für den großen Hut aus rosarotem Gazestoff, da ihm der rosarote Schleier das Schauen all dieser Greul erträglich macht.

Sehen wir auf den Kontext dieser kleinen Passage. Maximilian ordnet das Theaterstück ein in die politischen Begebenheiten der Zeit. Seine Ankunft in Paris, so erzählt er, fand „in einer sehr merkwürdigen Periode“ statt: „Die Franzosen hatten so eben ihre Juliusrevoluzion aufgeführt, und die ganze Welt applaudirte. Dieses Stück war nicht so gräßlich wie die früheren Tragödien der Republik und des Kaiserreichs. Nur einige tausend Leichen blieben auf dem Schauplatz. Auch waren die politischen Romantiker nicht sehr zufrieden und kündigten ein neues Stück an, worin mehr Blut fließen würde und wo der Henker mehr zu thun bekäme.“ Interessant ist, wie Heine hier die politischen Realitäten, deren Folgen er selbst bei seiner Ankunft in Paris 1831 erlebt hat, zur Bühnenillusion verkehrt, die ganze Welt wird zum Publikum. Faktivität und Fiktionalität erscheinen als nur mehr zwei verschiedene Perspektiven. „Paris ergötzte mich sehr, durch die Heiterkeit, die sich in allen Erscheinungen dort kund giebt und auch auf ganz verdüsterte Gemüther ihren Einfluß ausübt“, heißt es weiter: „Sonderbar! Paris ist der Schauplatz, wo die größten Tragödien der Weltgeschichte aufgeführt werden, Tragödien bey deren Erinnerung sogar in den entferntesten Ländern die Herzen zittern und die Augen naß werden; aber dem Zuschauer dieser großen Tragödien ergeht es hier in Paris, wie es mir einst an der Porte-Saint-Martin erging, als ich die Tour-de-Nesle aufführen sah.“ Während in der Ferne die Menschen erschüttert sind, hält Paris, so suggeriert Heine mit seiner Theatergeschichte, für die unmittelbaren Zeitzeugen die rosarote Brille bereit, damit sie die Schrecknisse ertragen und überleben können.

Masken, Schminke und Kostümierungen, so heißt es an anderer Stelle, sind auch Formen der Distanzierung von Realität, verwischen die Grenzen von Faktivität und Fiktionalität. Besonders eindrucksvoll spricht Heine in seinem „Rabbi von Bacherach“ über den „großen Judenschmerz“, das „tausendjährige Martyrthum“ der Juden. Heine hat seine Geschichte über die jüdische Gemeinde in Bacharach, die Ritualmord-Legende und die Judenpogrome auch im Mittelalter situiert, um aus dieser Distanz aktuelle Probleme seiner Zeit zu diskutieren, etwa die international viel beachteten Judenverfolgungen in Damaskus 1840. So gibt es z. B. die Figur Jäkel, des Narren, der das Eingangstor zum jüdischen Ghetto in Frankfurt bewacht und der nur mit Witzen und „Possenreißereyn“ in „schnarrendem Lustigmachertone“ sein eigenes Überleben sichert. Besonders interessant ist die Figur des Abarbanel, eines spanischen getauften Juden, mit dem Heine, der 1825 zum Protestantismus konvertiert ist, in gewisser Weise ein alter Ego zeichnet. Die Heine-Kenner wissen, wenn Heine Figuren erfindet, auf deren Oberlippe es zuckt, wie bei Abarbanel im „Rabbi von Bacherach“ und bei Maximilian in den „Florentinischen Nächten“, so meint der Dichter sich selbst. Abarbanel, der wie er sagt, die jüdische Küche weit mehr liebt als den jüdischen Glauben, ist ein guter Freund von Rabbi Abraham und gleichzeitig ein deutlicher Gegenpol. In Anspielung auf das Taufwasser wirft der Rabbi ihm wehmütig vor, er habe sich „in den bunten Schuppenpanzer des Krokodils verkappt“. Ein Schuppenpanzer als Schutz vor der nicht zu ertragenden Realität, bunt wie ein Narrenkostüm, welch ein Bild für Juden, die wie Heine ohne den jüdischen Glauben leben und sich doch dem „tausendjährigen Martyrthum“ der Juden immer zugehörig fühlen! Amos Oz sagte bei der Heine-Preisverleihung 2008 in Düsseldorf: „Heinrich Heine war ein säkularer Jude – so wie ich es bin. …Säkulare Juden gehören zum jüdischen Volk … Wir teilen Traditionen …Wir teilen einige Befindlichkeiten, vielleicht auch einen speziellen Sinn für Humor und ganz gewiss die gemeinsame Angst ums Überleben.“

Der bunte Schuppenpanzer und die rosarote Gaze als Möglichkeiten zu überleben. Sind das nicht gerade heute wunderbare literarische Bilder, um sich zu wappnen und wie Abarbanel lachend der Welt entgegenzusehen? Ich denke, wir dürfen uns wie Heine eine rosarote Brille wünschen. Das bedeutet keine Schönfärberei, keine Flucht aus der Welt, es geht nicht darum, „la vie en rose“ zu leben. Aber es ist ein Schutz, der aktive Auseinandersetzung, aktive Teilhabe am Leben allererst überhaupt möglich macht.

Heinrich Heine, der so begeistert über die französischen Revolutionen geschrieben hat, hatte ein Greul vor dem Blutvergießen. Das berühmte Gemälde von Eugène Delacroix „La liberté guidant le peuple“, das ikonographisch für die Julirevolution steht, ist nicht sein Lieblingsbild, als er – kaum in Paris eingetroffen – 1831 den berühmten Pariser Salon besichtigt und über die französischen Maler und ihre neuen Bilder nach der 1830er Revolution schreibt. Die Freiheit, die das Volk führt und vor der Silhouette von Notre Dame über Leichen schreitet, repräsentiert für ihn „die Weltgeschichte“. Dagegen preist Heine ein ganz anderes Gemälde. Er schwärmt von Leopold Roberts „Ankunft der Schnitter aus den Pontinischen Sümpfen“. Hier sagt er, sehen wir im Gegensatz zur Weltgeschichte „jene noch größere Geschichte, die dennoch genug Raum hat auf einem mit Büffeln bespannten Wagen; eine Geschichte ohne Anfang und ohne Ende, die sich ewig wiederholt und so einfach ist wie das Meer, wie der Himmel, wie die Jahrszeiten¸ eine heilige Geschichte, die der Dichter beschreibt und deren Archiv in jedem Menschenherzen zu finden ist; die Geschichte der Menschheit!“ Einen Kupferstich dieses Gemäldes hing in den letzten Jahren in Heines Sterbezimmer. In diesem Bild sieht er „die Apotheose des Lebens“, der „ganze Mensch, der Leib eben so gut wie der Kopf“ sei hier „vom himmlischen Licht, wie von einer Glorie, umflossen“.

Rosenlicht, himmlisches Licht: wenn das nicht alles auf Weihnachten deutet! Lassen Sie uns mit dem Dichter Mut schöpfen und allen Widrigkeiten zum Trotz sehr bewusst die „Geschichte der Menschheit“ leben! In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein frohes Weihnachtsfest!

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