Herbstspaziergang mit Rilke

Gastbeitrag von Elke Nußbaum

Herbsttag

Herr: es ist Zeit: Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los!
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein!
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben. 
             (Paris, September 1902)

„Wer jetzt allen ist, wird es lange bleiben“ – wer hat nicht schon einmal im September, Oktober oder November diese Worte aus Rainer Maria Rilkes (1875 – 1926) Herbsttag fast wie eine Drohung auf sich selbst und die eigene Zukunft bezogen? Erwartet man aber darum von einem Herbstspaziergang mit Rilke vor allem melancholische, düstere Töne, so wird man bald überrascht werden. Rainer Maria Rilke liebt und feiert den Herbst in Gedichten und Briefen wie keine andere Jahreszeit, denn der Herbst ist für ihn der große „Umgestalter“. Der gesamte Text besteht im Folgenden mit Rücksicht auf die gewünschte Kürze meines Blogbeitrags ausschließlich aus Textpassagen und Gedichten von Rilke selbst.

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Herbst? Warum nicht; es ist ja alles bereit, die Früchte sind groß…Und es gibt da an der Chaussee einen Teil des Parks, der nicht gefegt ist… Birken sind dort, die ganz schütter sind, und vielleicht sind sie’s den ganzen Sommer gewesen -, aber jetzt sieht es aus, als wären sie mit Absicht und Freude so, und die Wolken ziehn hinter ihnen, und man sieht alles durch sie durch, was in den Himmeln geschieht. Und es geht so ein nachdenklicher, welker Duft umher wie von Blumen, die die Sonne getrocknet und die der Wind gepresst hat, und es ist Herbst. Und deshalb gehe ich jetzt oft dort auf und nieder; denn ich will den Herbst! Ist es nicht, als wäre er das eigentlich schaffende, schaffender denn der Frühling, der schon gleich ist, schaffender, wenn er kommt mit seinem Willen zur Verwandlung und das viel zu fertige, viel zu befriedigte, schließlich fast bürgerlich – behagliche Bild des Sommers zerstört. Dieser große herrliche Wind, der Himmel auf Himmel baut; in sein Land möchte ich gehen und auf seinen Wegen. (Brief an Clara Rilke, 12.8.1904)

Und möchte nur, dass der große Sturm nicht aufhört, der so herrlich ist und so herbstlich weit. Mir ist, als hätte ich viel zu viel Sommer gehabt und zu viel Sonne. Alles in mir wartet darauf, dass die Bäume alles abtun und dass hinter ihnen die Ferne sichtbar wird mit ihren leeren Feldern und mit den langen Wegen in den Winter hinein. (Brief an Andreas-Salomé, 16.8.1904)

Dienstag abends kamen wir…wieder in Worpswede an. Schöne stille Sternennacht …Jetzt schon fühle ich, wie dieses Land, verlassen von Farben und Schatten, immer größer wird und breiter und immer mehr Hintergrund für bewegte Bäume im Sturm. Ich will in diesem Sturm bleiben und alle Schauer fühlen dieses großen Ergriffensein. Ich will Herbst haben…ich will einschneien um eines kommenden Frühlings willen, damit, was in mir keimt, nicht zu früh aus den Furchen steige. (Tagebücher, 27.9.1900)

Der Schauende (Auszug)
Da geht der Sturm, ein Umgestalter,
geht durch den Wald und durch die Zeit,
und alles ist wie ohne Alter:
die Landschaft, wie ein Vers im Psalter,
ist Ernst und Wucht und Ewigkeit.

Wie prächtig ist es jetzt bei mir geworden… Alles bei mir war vorbereitet, den Herbst zu empfangen, mit dem Sie mich überrascht und beschenkt haben. Für jedes Stück Ihres reichen Herbstes war schon ein Platz bestimmt…Auch für die Kastanienkette …Ich hole sie manchmal von der Wand und lasse sie wie einen Rosenkranz durch die Finger gleiten…  Diese ersten Novembertage sind für mich immer katholische Tage. Der zweite Novembertag ist der Tag von Allerseelen. (Brief an Paula Modersohn Becker, 05.11.1900)

Herbst
Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.

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