Heutzutage überholt?

Das Kriegsvölkerrecht

von Dr. Uwe Gerrens
Foto: Friedenspalast Den Haag, Sitz der internationalen Strafgerichtshof, Bildrechte Wikimedia CC

Zur Zeit wird in Bezug auf den Ukraine-Krieg diskutiert, was das Völkerrecht bringen soll, wenn mindestens eine Seite sich nicht daran hält. Die Frage ist berechtigt. Der UNO-Sicherheitsrat könnte über die Einhaltung völkerrechtlicher Bestimmungen wachen, wenn ihm nicht fünf ständige Mitglieder angehörten, die jeweils von ihrem Veto-Recht Gebrauch machen können, und das auch tun, sofern sie selbst oder ein enger Bündnispartner der Verletzungen des Völkerrechtes beschuldigt werden. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag könnte ein solches Gremium sein, weil er Kriegsverbrechen im Nachhinein strafrechtlich ahnden kann und dies auch präventiv eine gewisse abschreckende Wirkung entfalten kann. Allerdings beschränkt sich seine „Zuständigkeit“ auf diejenigen Staaten, die sich ihm freiwillig unterworfen haben, nicht zum Beispiel drei der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates (USA, Russland, China) auch nicht eine Reihe weiterer UNO-Mitglieder (z.B. Ägypten, Algerien, Angola, Armenien, Iran, Israel, Marokko, Syrien, Thailand, die Ukraine, die Vereinigten Emirate). Zusammengerechnet sind das etwa 60% der Staaten der Erde, denen aber nur ca. 30% der Weltbevölkerung angehören. Gleichwohl können auch Staaten, die die Ziele des Gerichtshofs bejahen, aber selbst keine Mitgliedsstaaten sind, die Verfolgung von Kriegsverbrechen beantragen. Die Ukraine hat das gemacht. Die USA haben zweitweise versucht, eine Auslieferung von US-Bürgern an den Internationalen Strafgerichtshof durch bilaterale Abkommen zu verhindern; unter Trump wurden Mitgliedern des Strafgerichts sogar Einreiseverbote erteilt. Biden nahm das zurück und hat angekündigt, in Sachen Strafverfolgung Ukraine-Krieg mit dem Internationalen Strafgerichtshof zusammenarbeiten zu wollen. Das Problem fehlender Durchsetzbarkeit des Völkerrechtes ist nicht neu, sondern mehr als hundert Jahre alt. Als 1908 die Haager Konvention unterzeichnet wurde, gab es keine überstaatliche Institution, die über die Einhaltung der Konvention wachte. Die Unterzeichnung war eine freiwillige Selbstverpflichtung der Unterzeichnerstaaten. Ob sie sich daran hielten, oder nicht, blieb ihnen überlassen. Den Haag erhielt 1913 einen dekorativen Friedenspalast (heute Sitz des Internationalen Strafgerichtshofs). Das hinderte die Staaten’gemeinschaft‘ 1914 nicht daran, gegeneinander Krieg zu führen. Im Ersten Weltkrieg verstießen sämtliche kriegführenden Staaten gegen die Genfer Konvention, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß (über das im Einzelnen bis heute gestritten wird).

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Was bewirkt ‚Recht‘, das nicht eingehalten wird? Erst einmal nichts. Recht ist nur so stark, wie Rechtsverstöße auch sanktioniert werden. In einem Rechtsstaat sollte das möglich sein, ggf. wenden Sie sich an eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt Ihres Vertrauens. Dennoch, und das ist das Erstaunliche, kann das Völkerrecht selbst dann eine gewisse Wirkung entfalten, wenn es nicht eingehalten wird: dann liefert es denjenigen, die gegen Rechtsverstöße ihrer eigenen Regierung angehen wollen, gute Argumente und stärkt ihre Position. Kein Land möchte heute in der internationalen Öffentlichkeit als eines angesehen werden, dass das Völkerrecht notorisch missachtet. Deshalb ist es üblich geworden, Lippenbekenntnis zum Völkerrecht abzugeben und nur konkrete Verstöße abzustreiten. Neu ist das nicht. Hitler hielt zwar das Völkerecht nicht sonderlich hoch, nicht einmal in der Form von Lippenbekenntnissen, dennoch begründete er den Überfall auf Polen sicherheitshalber damit, dass Polen angefangen habe: „Seit 5:45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen“. Das sollte jedenfalls den Schein waren.

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Eindrücklich für die Möglichkeit und Grenzen konkreter Proteste gegen Völkerrechtsverstöße im Zweiten Weltkrieg sind die völkerrechtlichen Interventionen des später ermordeten Helmut James Graf von Moltke („Kreisauer Kreis“). Ediert von Ger van Roon umfassen sie ein ganzes Buch. In einem seiner vielen Briefe (ich zitiere aus der Erinnerung, weil ich zu faul war, sie noch einmal nachzulesen) schrieb er seiner Frau, im Grunde seien die Offiziere im deutschen Generalstab dankbar für diesbezügliche Kritik. Eigentlich wüssten alle, was die Rechtslage ist. Wenn jemand sie auf konkrete Verstöße aufmerksam mache, laufe er offene Türen ein und stieße damit oft auf große Zustimmung. Gleichzeitig brächte allerdings kaum jemand den Mut zum ersten Schritt auf.

Ich selbst habe einmal eine Biographie Rüdiger Schleichers, eines Schwagers Dietrich Bonhoeffers geschrieben (ebenfalls bei Kriegsende ermordet), der im Reichsluftfahrtministerium versuchte, das Völkerrecht hochzuhalten, bis er kurz vor Kriegsbeginn entmachtet wurde. Er soll stolz darauf gewesen sein, „10 Gebote für den Deutschen Soldaten“ auf der Innenseite eines jeden Soldbuches der Luftwaffe untergebracht zu haben, als völkerrechtliche Kurzversion jedem 0/8/15-Soldaten zugänglich und deshalb gut anwendbar – bis diese „10 Gebote“ Anfang 1939 für den Neudruck späterer Soldbücher von Göring entfernt wurden. Wir wissen natürlich, dass diese Regeln im Zweiten Weltkrieg zehntausendfach missachtet wurden und geben uns keinen Illusionen hin. Dennoch möchte ich dazu auffordern, sich nicht allein deshalb innerlich vom Völkerrecht zu verabschieden, weil es laufend mit den Füßen getreten wird. Wir verabschieden uns ja auch nicht von der Forderung, Diebstahl zu verbieten, nur weil laufend gestohlen wird. Ich halte es für wichtig, die Einhaltung völkerrechtlicher Regeln hochzuhalten und Verstöße, wo sie geschehen, zumindest in der veröffentlichten Meinung zu brandmarken.

Liest man im Soldbuch der Luftwaffe aus den ersten Jahren des Nationalsozialismus nach, fällt auf, wie viel Soldaten eigentlich untersagt gewesen wäre. Auch wenn viele sich nicht daran gehalten haben: Vielleicht hat der eine oder andere das Völkerrecht dennoch ernst genommen oder hatte bei Verstößen zumindest ein schlechtes Gewissen. Wer als Kriegsgefangener überlebt hat, als Verletzter gepflegt wurde, als Zivilist:in nicht beschossen oder vergewaltigt, verdankt das möglicherweise den Haager Konventionen. Hier der bis 1939 in den Soldbüchern der Luftwaffe zu findende Text:

1. Der deutsche Soldat kämpft ritterlich für den Sieg seines Volkes. Grausamkeiten sind seiner unwürdig.

2. Der Kämpfer muss uniformiert oder mit einem besonders eingeführten, weithin sichtbaren Abzeichen versehen sein. Kämpfen in Zivilkleidung ohne ein solches Abzeichen ist verboten.

3. Es darf kein Gegner getötet werden, der sich ergibt, auch nicht der Freischärler und der Spion. Diese erhalten ihre gerechte Strafe durch die Gerichte.

4. Kriegsgefangene dürfen nicht misshandelt oder beleidigt werden. Waffen, Pläne und Aufzeichnungen sind abzunehmen. Von ihrer Habe darf sonst nichts weggenommen werden.

5. Dum- Dum- Geschosse sind verboten. Geschosse dürfen auch nicht in solche umgestaltet werden.

6. Das rote Kreuz ist unverletzlich. Verwundete Gegner sind menschlich zu behandeln. Sanitätspersonal und Feldgeistliche dürfen in ihrer ärztlichen bzw. seelsorgerischen Tätigkeit nicht gehindert werden.

7. Die Zivilbevölkerung ist unverletzlich. Der Soldat darf nicht plündern oder mutwillig zerstören. Geschichtliche Denkmäler und Gebäude, die dem Gottesdienst, der Kunst, Wissenschaft oder der Wohltätigkeit dienen, sind besonders zu achten. Natural- und Dienstleistungen von der Bevölkerung dürfen nur auf Befehl von Vorgesetzten gegen Entschädigung beansprucht werden.

8. Neutrales Gebiet darf weder durch Betreten oder Überfliegen noch durch Beschießen in die Kriegshandlung einbezogen werden.

9. Gerät ein deutscher Soldat in Gefangenschaft, so muss er auf Befragen seinen Namen und Dienstgrad angeben. Unter keinen Umständen darf er über Zugehörigkeit zu seinem Truppenteil und über militärische, politische und wirtschaftliche Verhältnisse auf der deutschen Seite aussagen. Weder durch Versprechungen noch durch Drohungen darf er sich dazu verleiten lassen.

10. Zuwiderhandlung gegen die vorstehenden Befehle in Dienstsachen sind strafbar. Verstöße des Feindes gegen die unter 1-8 angeführten Grundsätze sind zu melden. Vergeltungsmaßregeln sind nur auf Befehl der höheren Truppenführung zulässig.

Foto: Wikimedia CC

Ein Arbeitsblatt des polnischen Institutes für den Schulunterricht finden Sie hier https://www.poleninderschule.de/assets/polen-in-der-schule/downloads/arbeitsblaetter/g-zweiterweltkriegwarschaueraufstand-03-AB1.pdf

Einen online zugänglichen Artikel zu Moltke als Völkerrechtler finden Sie hier https://www.zaoerv.de/47_1987/47_1987_4_a_740_754.pdf

(Vorsicht Schleichwerbung!): Überaus lesenswert ist die nur noch antiquarisch zu erwerbende grandiose Studie von: Uwe Gerrens: Rüdiger Schleicher, Leben zwischen Staatsdienst und Verschwörung, Gütersloh 2009.

Foto: privat

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