Als im Frühjahr Kolonnen von Leichenwagen in Italien unsere Nachrichten bestimmten, als wir weltweit nur noch menschenleere Plätze sahen und auch in Deutschland ein öffentliches Leben kaum mehr möglich war, habe ich unsere Bücherregale nach noch nicht Gelesenem durchsucht und da nach Absage aller gemeinsamen Termine mit anderen nur noch Rückzug möglich war, habe ich mich als Literaturwissenschaftlerin in die Literatur zurückgezogen. Ich habe alles gelesen, was im Laufe der Jahre so liegengeblieben war, was ich geschenkt bekommen hatte oder was ich immer unbedingt schon mal lesen wollte. Ich habe mich von Bestsellern ablenken und von spannenden Krimis fesseln lassen, George Sand hat mich in das Frankreich des 19. Jahrhunderts entführt, Schnitzler in das Wien der Jahrhundertwende und mit Siegfried Lenz habe ich die Härten einer Jugend in der Nazizeit erlebt. Und sehr bald habe ich mich gefragt: Hilft Literatur? Sie wissen alle, es kann wunderschön sein, viel Zeit zum Lesen zu haben. Im Lesen erfahren wir andere Welten, andere Orte, andere Zeiten. Wir erweitern unseren Horizont, wir entdecken Neues, wir bilden und unterhalten uns. Wir können uns mit anderen Menschen identifizieren, unsere Wege kritisch betrachten und neue Perspektiven auf unser Leben kennenlernen. Literatur kann uns mit ihren Sprachspielen der Wirklichkeit entheben, sie kann uns durch die Schönheit ihrer Sprache betören, Literatur kann uns verzaubern: „Geschichten sind wie Zaubersprüche“, heißt es bei Dieter Forte. Und bei Ruth Klüger lesen wir, dass jedes Gedicht „zum Zauberspruch“ werden kann.
Aber kann Literatur helfen? Hilft Literatur in existenzieller Not? Wir kennen Erzählungen von Extremsituationen, wir wissen von Berichten von KZ-Überlebenden wie Ruth Klüger und Stéphane Hessel, dass Literatur zum Weiterleben geholfen hat. „Viele KZ-Insassen“, schreibt Ruth Klüger in ihrer Autobiographie, „haben Trost in den Versen gefunden, die sie auswendig wußten.“ Inwiefern kann Literatur trösten? Sie kann den Gedanken Fluchträume eröffnen, sie kann mit ihrer Ordnung das Leben strukturieren, gerade die gebundene Sprache der Lyrik kann eine Stütze sein. Das sind Extrembeispiele. Aber hilft Literatur in der uns zu Corona-Zeiten auferlegten Einsamkeit? Eine Zeitlang, so haben Sie es vielleicht auch erlebt, ist es großartig, es ist wie ein nie enden wollendes verregnetes Wochenende auf der Couch mit spannender Lektüre, wie ein Ferientraum mit dem Lieblingsbuch auf der grünen Sommerwiese unter blauem Sonnenhimmel. Doch habe ich das Lesevergnügen als begrenzt empfunden, in Einsamkeit und Existenzangst kann es schal und bitter werden. Ich hatte das große Glück, diese Zeit zu zweit zu erleben und mir ist gerade in Corona-Zeiten klar geworden, dass ich nicht nur lesen, sondern auch schreiben muss, dass ich nicht nur rezipieren, sondern auch reden muss, gemeinsam mit anderen Menschen über Literatur nachdenken muss. Wirklich bilden und unterhalten kann uns die Literatur nur im Miteinander.
Natürlich, so werden Sie zu Recht einräumen, ist auch das Lesen allein schon immer ein kreativer Prozess. Die Literatur ist uns ein Gegenüber, mit dem wir uns auseinandersetzen. Wir wissen aus der Rezeptionsästhetik, dass wir ein und dasselbe Buch alle anders lesen, denn wir lesen immer unsere eigene Geschichte und unsere eigene Situation mit. Deshalb betreffen uns Bücher in ganz anderer Weise und deshalb faszinieren uns Bücher so unterschiedlich. Insofern sind wir auch im einsamen Lesen immer schon im Dialog mit der Literatur. Literatur kann uns ein Spiegel sein, in dem wir uns allererst erkennen, so wie Saša Stanišić eine seiner Romanfiguren über Hermann Hesses „Steppenwolf“ sagen lässt: „In dem Buch standen Sachen über mich, die wusste ich selber noch gar nicht“.
Doch auch das kreative, aktive Lesen, das werden Sie eingestehen, hat in der Einsamkeit seine Grenzen und gewinnt viel mehr, wenn man es mit anderen teilt. Ob privat mit Freundinnen und Freunden, ob institutionalisiert in Seminaren und öffentlichen Lesungen, ob in der Literaturkritik in den Medien, das Miteinanderreden, das Austauschen von Leseerfahrungen bedeutet einen entscheidenden Mehrwert. Literatur wird meist einsam produziert und einsam rezipiert. Aber irgendwann explodiert der Wunsch nach Gemeinsamkeit, irgendwann braucht sie ein Miteinander. Wie gut, dass wir in Corona-Zeiten auch neue virtuelle Formen der Literaturdiskussion und Literaturvermittlung weiter entwickeln. Wie wunderbar, dass es im Sommer und im frühen Herbst wieder Möglichkeiten der realen gemeinsamen Literaturbegegnung und -unterhaltung gab. Wie beruhigend, dass wir uns nicht mehr so einsam und verunsichert fühlen müssen wie noch im März dieses Jahres. Wir sollten von der Literatur nicht zu viel erhoffen, ihr aber auch nicht zu wenig zutrauen. Lassen wir auch die Literatur für uns eine Himmelsleiter sein, in dem Sinne, dass sie uns anregen kann, Grenzen zu überschreiten. Literatur hat kein Leben an sich, nur im Weiterdenken, im Weitersagen, im Weiterschreiben, nur durch uns kann Literatur lebendig werden. Dann allerdings kann sie uns helfen, lebendig zu bleiben.