„Ich fühle mich eingesperrt“

Empfehlungen zu Film, Literatur und Musik.

Als die Familie Bonhoeffer 1904 nach Breslau zog und die neue Wohnung nur einen grotesk kleinen Garten bekam, soll der dreijährige Klaus Bonhoeffer gemeint haben, das störe nicht, man könne ohnehin immer nur an einem einzigen Ort zurzeit sein. Sein Vater lobte den „kleinen Philosophen“, doch die meisten Menschen, auch ich, ticken anders. Mir als Hamburger erschien es früher sogar unvorstellbar, wie die Westberliner es auf ihrer „Insel“ aushalten konnten, ohne die Möglichkeit, schnell aufs Land zu fahren. Zwar bin ich von Hamburg auch nicht laufend aufs Land gefahren, doch fühlte ich mich freier, solange das mein eigener Entschluss war.         

In meiner Wuppertaler Wohnung ist es warm, ich habe Bücher, Essen, Klopapier, Internet, Laptop, ein Bett, einen Crosstrainer und bin gesund, jedenfalls soweit man das in diesen Tagen selbst beurteilen kann. Ein Telefon verbindet mich mit Freunden und Familie, die größtenteils ohnehin weiter entfernt wohnen. Mein Arbeitgeber überweist mir mehr Geld als ich in den einzig geöffneten Lebensmittelgeschäften ausgeben könnte. Es fehlt an nichts, außer an Möglichkeiten, die ich größtenteils ohnehin nicht wahrgenommen hätte. Doch mein Blick aus dem Fenster ist immer derselbe. Kein Tapetenwechsel. Ich darf das Haus verlassen, nur nirgendwo hin. Ich fühle mich eingesperrt.

Film: Hitchcocks „Fenster zum Hof“ von 1954 handelt von einem Journalisten, der sich ein Bein gebrochen hat, mit Gips im Rollstuhl sitzt und aus dem Fenster schaut, knapp zwei Stunden Filmdauer immer dieselbe Perspektive. Hitchcock drehte seinen Film ohne einen einzigen Schnitt, eine Tortur für die Schauspieler, die fehlerfrei spielen mussten, doch diese geniale Kameraführung unterstützte das Gefühl von Einengung und Beklemmung; nur zum Wechsel der damals notwendigen Filmrollen musste Hitchcock kurz ausblenden, ging ins Unscharfe und ließ die neue Rolle in derselben Perspektive wieder beginnen. Der Hof ist eng. Der Journalist hat nichts zu tun. Voyeurhaft beobachtet er das Leben der Menschen in den Wohnungen gegenüber, eine Frau, die in Unterwäsche Morgengymnastik macht, eine andere, die krank im Bett liegt. Ihr Mann verlässt eines Nachts in strömendem Regen mit einem riesigen Koffer das Haus, am nächsten Morgen ist sie verschwunden. Der Mann wickelt Messer und Sägen in Zeitungspapier. Ein älteres Ehepaar beerdigt seinen Hund. Mord?  Eigentlich sollten Sie den Film im Kino sehen. Hier meine online-Empfehlung, leider mit Werbung: https://www.dailymotion.com/video/x26u86i

Literatur: Praktisch alle Gefängnisbriefe handeln von der Einengung, dem Zwang, den Raum nicht verlassen zu können. Lesenswert sind die Briefe von Dietrich Bonhoeffer („Widerstand und Ergebung“ oder „Brautbriefe Zelle 92“), Antonio Gramsci (Gefängnisbriefe I bis IV), Helmuth James Graf v. Moltke („Briefe an Freya. 1939–1945)“ oder das „Tagebuch der Anne Frank“. Ich kann sie alle zur Anschaffung empfehlen, Sie finden sie aber auch in Ihrer Stadtbibliothek. Die ist geschlossen? Wenn Sie Düsseldorfer sind, können Sie unter der E-Mail stadtbuechereien@duesseldorf.de ein kostenfreies digitales Abo bis zum Ende der Schließungszeit beantragen und alle dort vorhandenen digitalen Bücher kostenfrei ausleihen. Sie müssen in der Mail lediglich Ihren Namen, ihre Anschrift und das Geburtsdatum angeben.

Einen Klassiker der Gefängnisliteratur besitzen Sie schon, auch wenn Sie es vielleicht nicht bemerkt haben: Die Briefe des Paulus an die Gemeinde in Philippi. Paulus schrieb, während er einsaß, vielleicht in Ephesus, vielleicht in Caesarea. Im Internet können Sie sich den Carcer Tullianus anschauen, wo Petrus angeblich gefangen gehalten wurde. Sie gewinnen ein Gefühl dafür, welch finstere Verliese römische Gefängnisse waren. Mit diesem Hintergrund werden Sie den Philipperbrief anders lesen (er ist kurz und umfasst nur wenige Seiten). Sie werden feststellen, dass das berühmte „Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn“ (Phil. 1,21) im Kontext weniger als Vertröstung, denn als Notschrei verstanden werden muss, und dass der positivere Schluss („ich habe gelernt, mir genügen zu lassen“ 4,13) sowie das berühmte („Freuet Euch in dem Herrn allewege“ 4,4) hart erarbeitet sind.

Musik: Zum Abschluss der „Chor der Gefangenen“: Ich bevorzuge die Version Beethovens aus der Oper Fidelio („Oh welche Lust, in freier Luft den Atem leicht zu heben! […] Oh Himmel, Rettung, welch ein Glück. Oh Freiheit, kehrest Du zurück?“) https://www.youtube.com/watch?v=kdB0roPqg7Q . Bekannter ist die Fassung Verdis https://www.youtube.com/watch?v=aiSSz0snWzA . Wenn Sie sich den Text anschauen (hier eine Übersetzung https://de.wikipedia.org/wiki/Va,_pensiero ) werden Sie leicht erkennen, dass Verdi sich an den 137. Psalm anlehnte: Der Chor der Hebräer, die in Babylonien gefangen sind, beklagt das ferne Heimatland und ruft Gott um Hilfe an.

Dr. Uwe Gerrens, Ev. Stadtakademie

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