Jesus Christus, der „wahre Jakob“, und die Himmelsleiter

Gastbeitrag von Matthias Morgenstern

Midraschtexte als Hilfe, die hebräische Bibel christologisch zu deuten
(Teil III, Forts. vom 1. und 8. Juni)

5. Tora-Lernen als Heilsgabe

Wenn es in V. 13 heißt „das Land, auf dem du liegst, will ich deinem Samen geben“, so ist dies nach dem Midrasch wörtlich zu verstehen:

Rabbi Schimon sagte im Namen Bar Kapparas: Das ganze Land war unter ihm wie eine Schreibtafel eingerollt.[1]

Von der Voraussetzung her, dass dem Schläfer zugesprochen wird, was unter seinem Haupte lag und das Land Israel sozusagen sein Kopfkissen war, entfaltet der V. 14 erst seinen Sinn:; „Du wirst dich ausbreiten nach Abend, Morgen, Mitternacht und Mittag“. Gemeint ist nicht mehr die Landverheißung an das Alte Israel. Die jüdische Souveränität über das Verheißene Land entsprach zur Zeit des Midrasch, wie wir wissen, ja längst nicht mehr der Realität. Das zu erkundende Land war nun die „Schreibtafel“. Dass die Rabbinen zur Bezeichnung dieser Tafel im Hebräischen ein griechisches Fremdwort verwenden (פינקס/pinkas=πινάκες) macht die Dialogsituation mit der griechisch-sprachigen Umwelt deutlich. In der rabbinischen Theologie ist dieser Begriff eng verbunden mit der Assoziationswelt der Toragelehrsamkeit samt ihren Schriftrollen und Codices.[2]

Nicht nur hier, im ganzen Genesis Rabba-Text werden die geographischen Distinktionen theologisch irrelevant. Die Annahme der Unkenntnis lokaler Verhältnisse scheidet aus, abgesehen davon, dass den Midraschautoren eine gewisse Logik und Konsistenz zuzubilligen ist. Obwohl die Rabbinen in Palästina lebten und die Endredaktion des Midrasch im Heiligen Lande zu lokalisieren ist, formulieren diese Texte Grundzüge für ein neues rabbinisches Judentum unter den Bedingungen des „edomitischen Exils“. So bekommen wir Einblick in den einzigartigen Transformationsprozess des nachbiblischen Judentums hin zu einer Religion des Wortgottesdienstes und der (doppelten) Tora aus Bibel und Talmud bzw. Midrasch.

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6. Auf dem Weg zu einer kontrollierten christologischen Auslegung

Der Weg, den die Rabbinen gegangen sind, ist beeindruckend. Ihre Optionen lassen auch die „Imagination“ Luthers in neuem Licht erscheinen. Luther nährt sich aus dem Fundus der Kirchenväter und mittelalterlicher Autoren wie Raschi und Nicolaus von Lyra; er bezieht sich auf Überlieferungen, die Juden- und Christentum gemeinsam sind. Seine Auslegung der Bethelgeschichte erscheint wie eine weitere Midrasch-Variante, formuliert aus Sicht eines christlichen Theologen, für den ein Bibellesen etsi Christus non daretur unmöglich ist. Mit seiner Erklärung, „frei zu imaginieren“[3], gibt er zu erkennen, hier die strenge exegetische Disziplin zu verlassen und in ein anderes Genus zu wechseln. Wenn dies zugleich bedeutet, mit solcher Auslegung weder ein historisches Urteil verbinden noch sonst andere Deutungsmöglichkeiten ausschließen zu wollen, wenn man zudem den Referenzrahmen benennt – das jüdisch-christliche Gespräch, in dem diese Perspektive einst entstand und heute wieder möglich wird! –, kann man einer christologischen Auslegung, wie Luther sie vorträgt, die Berechtigung nicht absprechen. Mit dieser aus der Midraschlektüre gewonnenen Möglichkeit kritisch, kontrolliert und kontextuell abgewogen umzugehen – das ist die Herausforderung, vor die die neue Perikopenordnung mit ihren vermehrten alttestamentlichen Predigttexten stellt.

Dem Autor, Professor Dr. Matthias Morgenstern, seit 2004 am Institutum Judaicum der Uni Tübingen tätig und dem Deutschen Pfarrerinnen und Pfarrerblatt, in dem dieser Artikel zuerst erschien, danke ich erneut für die freundliche Abdruckerlaubnis.   Harald Steffes


[1] Genesis Rabba 69,4 (Ed. Krupp, Bd. 2, 335).
[2] Saul Lieberman, Hellenism in Jewish Palestine, New York 1950, 205f. und Burton Visotzky, Genesis Rabbah 1: 1 – Mosaic Torah as the Blueprint of the Universe – Insights from the Roman World, in: Fine, S./ Koller, A. (Hg.), Talmuda de Erez Israel: Archaeology and the Rabbis in Late Antique Palestine (Studia Judaica 73), Boston 2014, 127–140 (hier 130–131).
[3] Vgl. WA 43, 596, 25 („libenter sic velim imaginari“).

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