Jubiläumsalarm!!

von Harald Steffes

Zum 500. Jahrestag von Luthers Auftritt auf dem Reichstag zu Worms 1521.

In diesen Tagen jährt sich zum 500. Mal ein Ereignis, das nicht nur die Kirchengeschichte, sondern die gesamte europäische Geschichte geprägt hat. Es ist eines jener Ereignisse, die die 500jährige Gelegenheit, ins kulturelle Gedächtnis einzusickern, reichlich genutzt haben.

Soll heißen: Jubiläumsalarm! In zahlreichen Sonntagsreden wird wieder einmal erzählt werden, wie es gewesen sein soll, damit es ins eigene Weltbild und Bedürfnisportfolio passt:
der kleine Mönch Martin Luther, der todesmutig dem Kaiser und den versammelten Oberen des Reiches sein trotziges „hier stehe ich, ich kann nicht anders“ entgegenschleudert, wird wieder einmal vor den ein oder anderen Karren gespannt werden.

Was ist auf dem Wormser Reichstag am 17. und 18. April 1521 „wirklich“ passiert?

Warum wird der oben zitierte legendäre Satz wider besseres Wissen immer wieder als Originalzitat ausgegeben?

Darf und muss Luther als Erfinder der „Gewissensfreiheit“ gelten?

Kann der Mut eines Einzelnen in irgendeiner Weise die Glaubwürdigkeit derer erhöhen, die meinen, sich auf ihn und seinen Wormser Auftritt berufen zu müssen?

Und wie stellen sich die Ereignisse aus der Perspektive desjenigen dar, dem gegenüber Luther den Widerruf seiner Schriften verweigerte: Wie mag Kaiser Karl V das Ganze wahrgenommen haben?

Das Verhör auf dem Reichstag und seine Vorgeschichte

Luthers Bereitschaft, nach Worms zu gehen, trotz erheblicher Bedenken um Leib und Leben, können wir unter anderem in einem längeren Brief an seinen Freund und Berater Spalatin vom 29. Dezember 1520 lesen:

Hier darf es keine Rücksicht auf Gefahr oder Wohl und Wehe geben; hier gibt es vielmehr nur eine Sorge: dass wir das Evangelium, mit dem wir angetreten sind, nicht dem Spott der Gottlosen preisgeben, dass wir den Feinden keinen Anlass zum Triumph über uns geben, als wagten wir kein freies Bekenntnis unserer Lehre, dass wir uns nicht fürchten, unser Blut für das Evangelium zu vergießen. Vor solcher Feigheit bei uns und solchem Triumph bei ihnen bewahre uns Christus in seiner Barmherzigkeit! Amen (…)
Damit habt Ihr meine Meinung und meinen Willen. Erwartet alles von mir, aber nicht Flucht und Widerruf. Ich will nicht fliehen, noch viel weniger widerrufen.[1]

Die offizielle Vorladung zum ersten Reichstag, den der frisch gewählte junger Kaiser Karl  V. in Worms abhielt, erreichte Luther wahrscheinlich persönlich durch den Reichsherold Kaspar Sturm am 29. März 1521. Am 16. April wird der Reformator von etwa 2000 begeisterten Menschen in Worms empfangen. Am Nachmittag des 17. Aprils findet der erste Auftritt vor den Reichstagsdelegierten statt. Johann von der Ecken, Offizial des Erzbischofs von Trier, führt das Verhör und hat Mühe, dem aufsässigen Mönch klarzumachen, dass er nicht zum Diskutieren über seine Thesen eingeladen wurde, sondern lediglich zum Widerruf. Luther gelingt es, dem Kaiser einen Tag Bedenkzeit abzuschwatzen, und hält dann am darauffolgenden Tag, dem 18. April 1521, seine berühmte Verteidigungsrede, die in Quellensammlungen und im Internet in voller Länge nachzulesen ist.

Luther vor dem Reichstag in Worms, Anton v. Werner 1877

Er positioniert sich als einfachen Mönch, der um Verzeihung bittet, falls er aufgrund der mangelnden Übung einen der Anwesenden aus Versehen mit einer unpassenden Anrede bedenken „oder sonst in irgendeiner Weise gegen höfischen Brauch und Benehmen verstoßen sollte“. Danach bekennt er sich zu seinen Schriften und legt einige Differenzierungen vor, indem er seine Schriften, die er allesamt widerrufen soll, in verschiedene Gruppen einteilt. Schließlich steuert er zielstrebig auf seine Kernantwort zu, mit der er den verlangten Widerruf verweigert:

Darum bitte ich um der göttlichen Barmherzigkeit willen, Eure allergnädigste Majestät, durchlauchtigste fürstliche Gnaden oder wer es sonst vermag, er sei höchsten oder niedersten Standes, möchte mir Beweise vorlegen, mich des Irrtums überführen und mich durch das Zeugnis der prophetischen oder evangelischen Schriften überwinden. Ich werde völlig bereit sein, jeden Irrtum, den man mir nachweisen wird, zu widerrufen, ja, werde der erste sein, der meine Schriften ins Feuer wirft.
Es wird hiernach klar sein, daß ich die Nöte und Gefahren, die Unruhe und Zwietracht, die sich um meiner Lehre willen in aller Welt erhoben haben, und die man mir gestern hier mit Ernst und Nachdruck vorgehalten hat, sorgsam genug bedacht und erwogen habe. Für mich ist es ein denkbar erfreulicher Anblick, zu sehen, wie um Gottes Wort Unruhe und Zwietracht entsteht. Denn das ist der Lauf, Weg und Erfolg, den Gottes Wort zu nehmen pflegt, wie Christus spricht: «Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert; denn ich bin gekommen, den Menschen zu erregen wider seinen Vater usw.» Darum müssen wir bedenken, wie Gott wunderbar und schrecklich ist in seinen Ratschlüssen, daß nicht am Ende das, was wir ins Werk setzen, um der Unruhe zu steuern, damit anfängt, daß wir Gottes Wort verdammen, und so viel mehr einer neuen Sintflut ganz unerträgliche Leiden zustrebt. Wir müssen sagen, daß die Regierung unseres jungen, vortrefflichen Kaisers Karl, auf dem nächst Gott die meisten Hoffnungen ruhen, nicht eine unselige, verhängnisvolle Wendung nehme. Ich könnte es hier mit vielen Beispielen aus der Schrift vom Pharao, vom König Babylons und den Königen Israels veranschaulichen, wie sich gerade dann am sichersten zugrunde richteten, wenn sie mit besonders klugen Plänen darauf ausgingen, Ruhe und Ordnung in ihren Reichen zu behaupten. Denn er, Gott, fängt die Schlauen in ihrer Schlauheit und kehret die Berge um, ehe sie es inne waren. Darum ist’s die Furcht Gottes, deren wir bedürfen. Ich sage das nicht in der Meinung, so hohe Häupter hätten meine Belehrung oder Ermahnung nötig, sondern weil ich meinem lieben Deutschland den Dienst nicht versagen wollte, den ich ihm schuldig bin. Hiermit will ich mich Euer allergnädigsten kaiserlichen Majestät und fürstlichen Gnaden demütig befohlen und gebeten haben, sie wollten sich von meinen eifrigen Widersachern nicht ohne Grund gegen mich einnehmen lassen. Ich bin zu Ende …

Weil denn Eure allergnädigste Majestät und fürstlichen Gnaden eine einfache Antwort verlangen, will ich sie ohne Spitzfindigkeiten und unverfänglich erteilen, nämlich so: Wenn ich nicht mit Zeugnissen der Schrift oder mit offenbaren Vernunftgründen besiegt werde, so bleibe ich von den Schriftstellen besiegt, die ich angeführt habe, und mein Gewissen bleibt gefangen in Gottes Wort. Denn ich glaube weder dem Papst noch den Konzilien allein, weil es offenkundig ist, daß sie öfters geirrt und sich selbst widersprochen haben. Widerrufen kann und will ich nichts, weil es weder sicher noch geraten ist, etwas gegen sein Gewissen zu tun.
Gott helfe mir, Amen.

Wer Augen hat zu lesen, der lese: von einem „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders“ ist nicht die Rede. Manche derjenigen, die meinen, historische Genauigkeit sei ein lästiges Hobby einzelner Besserwisser und ansonsten nicht so wichtig, werden darauf hinweisen, viel bedeutender sei doch, wie Luthers eindrucksvolle Haltung in diesem Wort zusammengefasst ist. Und in der Tat scheint mir der entscheidende Punkt auch nicht die kleinkarierte philologische Rekonstruktion zu sein. Klar: Luthers Auftritt war ein Medienereignis, das im 16. Jahrhundert seinesgleichen sucht. Schon in den ersten Wochen nach seinem Auftritt finden wir 24 deutsche und vier lateinische Drucke seiner Rede. Nur in drei dieser  Flugschriften, auffälligerweise allesamt in Wittenberg gedruckt, lesen wir die Ergänzung „Ich kann nicht anders. Hier stehe ich.“ Und das geflügelte Wort mit der umgekehrten Reihenfolge, das immer wieder gerne zitiert wird, findet sich gar erst 25 Jahre nach den Ereignissen, im Todesjahr Luthers, im zweiten Band der Wittenberger Ausgabe seiner Schriften. Hier hat man also im Umfeld Luthers die Gelegenheit genutzt, eine markante Szene der deutschen Geschichte zu einer legendären Szene zu machen.

BRD 1971

Muss man sich über ein gut erdachtes aber dennoch falsches Zitat aufregen? Man muss nicht, aber man darf. Eben darum, weil Luther sich in seiner Rede gerade nicht selbst in den Mittelpunkt stellt, sondern das Wort Gottes. Und genau in dieser Linie betont er eben nicht die Freiheit des subjektiven Gewissens, sondern er zeigt, wie sein Gewissen nicht frei ist, sondern gebunden. Die Person ist in ihrem Gewissen einzig und allein dem Wort Gottes gegenüber verantwortlich: mein Gewissen bleibt gefangen in Gottes Wort. Und somit liegt die Basis des Gewissens außerhalb der eigenen Person. Die Erforschung des Gewissens findet ausschließlich im Gespräch mit der Heiligen Schrift statt.

Beruft sich Luther auf sein Gewissen? Ja!
Beruft er sich auf eine allgemeine Gewissensfreiheit? Nichts liegt ihm ferner.


Und nun?

Falls Sie also in den nächsten Tagen einem oder einer jener Sonntagsredner*Innen in die Hände fallen, die meinen, Luther zum Erfinder der modern verstandenen Gewissensfreiheit verklären zu müssen, dürfen Sie getrost aufstehen und den Saal verlassen.
Motto: Ich gehe jetzt, ich kann nicht anders.

Und was macht man dann mit dem angebrochenen Tag? Wohin geht man?
Vielleicht schreitet man zur Lektüre von einer der beiden frisch erschienenen Biografien über Luthers Gegenspieler Karl [2]. Dort wird man dann fröhlich befreit von einigen anderen Klischees, die sich mit dem Wormser Reichstag verbinden. Unter anderem wird man sehen, wie sich auch Karl V. seinem Gewissen verpflichtet weiß, das er allerdings an einem anderen Ort begründet, nämlich in der Tradition seiner Vorfahren, die sich als christliche Kaiser dazu berufen fühlten, die Einheit des Christentums zu verteidigen. Dann wird schnell verständlich, warum Karl V. (anders zum Beispiel als seine Schwester Maria, die im gleichen humanistischen Geist erzogen wurde wie er und mit wachsender Begeisterung Luthers Schriften las), kein Verständnis für einen Mann hat, der an den Institutionen zweifelt, die seit Jahrhunderten die Einheit der Kirche und des Herrschaftsbereiches garantieren. Diese beiden Biografien vermitteln Einsichten in den durchaus pragmatischen Zug frühneuzeitlicher Politik. Warum ist der Reformator nach dem berühmten Auftritt vom 18. April keineswegs direkt aus Worms abgereist? Er hat am 25. April, eine Woche später (!), noch einmal vor einem Ausschuss aufzutreten. Dieser versucht, doch noch zu einer Lösung zu kommen. Luther aber beklagt erneut, dass man ihm keine Gelegenheit zur öffentlichen Disputation gegeben habe und betont, dass er weiterhin nicht durch Gottes Wort widerlegt sei. Erst nach dem Scheitern dieses Versuches im kleineren Kreise zu einer Verständigung zu kommen, reist Luther am 26. April ab.

(Übrigens: als Karl V. das rückdatierte Wormser Edikt am 24. Mai öffentlich verlesen lässt (und am 26. Mai unterschreibt), weiß er, dass Luther bereits in Sicherheit ist. Und durch den Umstand, dass das Edikt nicht nach Kursachsen gesandt wird, ist es dort übrigens rechtlich nie in Kraft getreten.)

Was also feiern wir zum 500. Jahrestag von Luthers Auftritt in Worms?

Wir feiern keinen mutigen Helden. (Jedenfalls keinen, dessen persönlicher Mut die Wahrheit einer jüngeren Institution gegenüber einer älteren Institution gewährleisten könnte.)

Wir feiern nicht den Erfinder der Gewissensfreiheit.

Wir feiern die Unverdorbenheit eines (jeden) Menschen, der, vom Wort Gottes erfasst, um die Wahrheit ringt. Der um die Notwendigkeit des gemeinsamen und ergebnisoffenen Ringens und Argumentierens und Nachdenkens in dieser Sache weiß. Wir feiern die gelassene Heiterkeit, die nicht bereit ist zu glauben, dass das Interesse der Institutionen höher zu bewerten sei, als das Recht der Menschen, die Institutionen gerade in der Auslegung des Wortes Gottes infrage stellen zu dürfen. Hier steht Luther: „Für mich ist es ein denkbar erfreulicher Anblick, zu sehen, wie um Gottes Wort Unruhe und Zwietracht entsteht. Denn das ist der Lauf, Weg und Erfolg, den Gottes Wort zu nehmen pflegt“.

Diese Forderung nach einem Diskurs, der vermeintliche Sicherheiten erschüttert, ist aber etwas völlig anderes als ein „Huck, ich habe gesprochen“. Luther in Worms ist kein sanftes Ruhekissen, auf dem Protestanten sich für alle Zeit ausruhen können. Luther in Worms ist ein Anfang und eine ständige Herausforderung.


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[1] Im Kontext nachzulesen in: Weimarer Ausgabe Briefe 2, 242, 5ff

[2] Heinz Schilling: Karl V. Der Kaiser, dem die Welt zerbrach, München 2020, 457 Seiten.

Geoffrey Parker: Der Kaiser. Die vielen Gesichter Karls V., Darmstadt 2020, 879 Seiten.

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