Kapitalismus, Aerosole, Zeit als Geld und die Suche nach alternativen Ideen

von Dr. Gabriela Köster

Am Freitag war ich im Museum. Das ist nicht gerade etwas Besonderes für eine, die in der Stadtakademie für den Dialog zwischen Kirche und Kultur zuständig ist. Aber seit Corona ist ja alles anders: Ich halte mich kaum noch in geschlossenen Räumen auf, für die ich nicht selbst Miete oder Kfz-Steuer bezahle: Ich besuche keine Leute, die ich nicht gut genug kenne, um ihr Risikoverhalten einschätzen zu können, ich fahre nicht mehr länger als eine Stunde mit der Bahn (wo ich oft den Platz wechsle, weil die Maskenverweigerer immer zahlreicher werden), nehme nicht mehr unnötig den Aufzug, gehe nicht ins Kino, gehe nicht in Restaurants ohne Außenbereich, fliege nicht nur in kein Risikogebiet, sondern überhaupt nicht in einen Urlaub, in den man fliegen müsste – alles um den Aerosolen zu entgehen, mit denen man sich Covid19 einfangen kann. Ich bin jeden Tag dankbar, keinen gefährlichen Beruf auszuüben – wie etwa Schlachter oder Erntehelferin – und bin mir bewusst, dass es gerade die „systemrelevanten“ pflegenden, behandelnden und kassierenden Berufe sind, die schlecht bezahlt sind, bei deren Ausübung Infektionsgefahren lauern und für deren Ausgleich unser System bisher keine gerechte Lösung gefunden hat. Liegt das an unserem Wirtschaftssystem? Könnte man das ändern?

Ich lebe, obwohl Sommer ist und die Infektionszahlen viel niedriger sind als anderswo und als sie bei uns im Herbst sein werden, so, als wäre es schon so schlimm, wie es erst demnächst werden könnte – dank der Unvorsichtigkeit anderer. Nur letzten Freitag bin ich – für meine Verhältnisse – unvorsichtig geworden: Ich war am Nachmittag, nicht etwa wie sonst, gleich nach Öffnung des Museums, sondern erst um 14 Uhr, nachdem schon viele fremde Menschen in der Bundeskunsthalle hätten gewesen sein und  Aerosole hätten ausatmen können, drei Stunden in der Ausstellung „Wir Kapitalisten. Von Anfang bis Turbo“. Ich konnte nicht anders. Oder besser: Ich war so fasziniert, dass ich die Zeit vergessen habe.


Ich will Sie nicht auf die Folter spannen und gleich schon sagen: Sie können die Ausstellung auch noch sehen. Sie ist bis zum 30. August verlängert und der Katalog, der eigentlich ein Bilder- und Lesebuch ist, ist so gut wie die Ausstellung selbst und für ganz und gar unprofitgierige (wie alles, was man bei der Bundeszentrale für politische Bildung bestellen kann) 6,90 € zu erwerben. Dieser Katalog sollte aus meiner Sicht zur Pflichtlektüre in allen Schulen ab der 8. Klasse werden und jedes Jahr ein paar Kapitel daraus vermitteln, z.B. „Wär ich nicht arm, wärst Du nicht reich.“
Kapitalismus: wie kommt ein ökonomisches System in die Bundeskunsthalle? Die These der Ausstellungsmacher*innen lautet: Kapitalismus ist weit mehr als nur ein ökonomisches System. Er ist eine Gesellschaftsordnung, die unser Denken, Fühlen und Dasein seit Jahrhunderten prägt. Aus einer kulturhistorischen Perspektive betrachtet darum die Ausstellung die grundlegenden Eigenschaften des Kapitalismus: Rationalisierung, Individualisierung, Akkumulation, Geld und Investitionen sowie typische kapitalistische Dynamiken wie ungebremstes Wachstum und schöpferische Krisen.
Diese „DNA des Kapitalismus“ ist in einem übertragenen Sinne längst Teil unserer eigenen DNA geworden: Wie formt der Kapitalismus unsere Identität und Geschichte, zum Beispiel hinsichtlich Individualität, Zeitempfinden und materiellem Eigentum? Und können – oder wollen – wir daran etwas ändern?
„Wer Ohren hat zu hören, der höre“, so beginnt im Katalog der Essay von Jochen Hörisch unter dem Titel „Wahlverwandschaften: Kapitalismus und Religion“. Schon an anderer Stelle hat er die Münzenförmigkeit von Heiligenscheinen und Hostien angemerkt. Ob Geld, ob Hostie – an beides muss man glauben, sonst funktioniert das zugehörige System nicht.

Die Ausstellung arbeitet mit allen Mitteln, die man sich denken kann: mit Fotos, mit Videos von Kunstaktionen, mit Tabellen, Gegenständen aus der Arbeitswelt, Texten (Bitte versäumen Sie keinesfalls, den Katalog zu bestellen, selbst wenn Sie keine Lehrerin sind: ISBN 978-3-8389-7194-0), mit Modellen, mit Gegenständen aus der Produktion, mit Landkarten, mit Kunst, mit einem Spiel, bei dem man durch ein Computerprogramm sein eigenes Verhalten im Kosmos der kapitalistischen Lebensweise analysieren kann und King Kong, Lady Gaga und das alte Handy von Frau Merkel spielen auch eine Rolle. Vor dem Spiel, das meine Werteprioritäten hätte entlarven können, habe ich mich gedrückt; es wäre auch wirklich zu zeitaufwendig gewesen, ganz nach dem Motto Zeit ist Geld, time is money.

Darum möchte ich nur noch schnell von meinem Lieblingsexponat berichten: Ein kleines Gemälde von einem Schaf, darunter ein Sensor, der die Verweildauer der Betrachterin misst und die Zeitspanne in Geld umrechnet. Dieser Betrag erscheint dann auf einer Additionsrolle und rechnet dem Bild einen entsprechend größeren Wert zu. Ich habe so lange davor gestanden, dass das Bild um 10 € wertvoller bzw. teurer „geworden“  ist. Das Werk stammt von den beiden Künstler*innen Christa Sommerer und Laurent Mignonneau (The Value of Art – Sheeps Head, 2010, Sammlung Haupt, Berlin). Das Gemälde ist älter, die beiden haben es auf einer Auktion gekauft. Das Schaf schaut den Betrachter mit zutraulichem Blick an. Es erinnert mich trotzdem an das tote Lamm von Francisco Zurbarán, das seit einigen Jahren als Postkarte in meinem Wohnzimmer hängt. Vielleicht weil gerade Lämmer so gern zu den Schlachtbänken des Kapitalismus` geführt werden. Vielleicht weil kleine verletzliche Tiere so deutliche Symbole für die menschliche Entfremdung abgeben. Es mag andere Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme geben, die auf ihre Art entfremdende Strukturen ausbilden und bei Menschen Entfremdung von anderen und von sich selbst auslösen. Das System, das dies weltweit und hier bei uns im Westen besonders bewerkstelligt ist nun mal der Kapitalismus: Menschliche Arbeit, auch wenn sie knapp über dem Mindestlohn bezahlt wird, wird ordentlich besteuert, Erbschaften und Vermögen so wie überhaupt nicht. Dabei ist die Herde der arbeitenden Bevölkerung viel größer als die derer, die in reiche Familien geboren werden und sich von Generation zu Generation immer reicher erben. Sind also die 82 %, die durchaus schon bemerkt haben, dass es in unserem ansonsten sehr schönen Land eine zunehmende soziale Ungleichheit gibt, von schafhaftem Gemüt: duldsam, bescheiden, leidensbereit, Leithammel-folgsam? „Um ein tadelloses Mitglied einer Schafherde zu sein, muss man vor allen Dingen ein Schaf sein.,“,  soll Albert Einstein einmal gesagt haben. Bei uns Theologinnen haben Schafe ja einen besseren Ruf als durchschnittlich gesamtgesellschaftlich, was an Psalm 23 liegt und an ein paar Versen in den Evangelien, die zu meditieren sehr fruchtbar sein kann. Und trotzdem: Ein treffenderes Bild als das mit dem niedlichen jungen Schaf hätten die Künster*innen nicht finden können.

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Das Kunstwerk mit dem Kassenbon „kommentiert die ökonomischen Theorien, die unsere Aufmerksamkeit als knappes Gut und Währung einstufen. Wert bemisst sich darin zum Beispiel nach der Zahl von Likes, Retweets oder Followern“, weiß dazu der Katalog. (Hatte ich schon erwähnt, dass dessen Anschaffung sich unbedingt lohnt?)

Dieses Kunstwerk geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich werde mir das Foto vergrößern und neben Zurbaráns Agnus Dei ins Wohnzimmer hängen, mitsamt dem auch durch mich um einiges länger gewordenen Kassenbon. Ich konnte den Blick einfach nicht abwenden. Dabei bin ich doch von Likes ganz unabhängig und selber noch nicht einmal bei Facebook.

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