Zur Frage nach der Historizität der Wunder Jesu
Jesus von Nazareth hat, wie in den Evangelien regelmäßig erzählt wird, immer wieder Dämonen ausgetrieben. Diese Texte wirken auf heutige Menschen überaus befremdlich. Es fällt schwer, sich auf derartige Erzählungen einzulassen. Das hängt besonders damit zusammen, dass die Welt und ihre Zusammenhänge heute durch die Naturwissenschaften erforscht und beschrieben werden. Die auf diese Weise erzielten Erkenntnisse sind beeindruckend. Für irgendwelche Wesen oder Kräfte zwischen Himmel und Erde ist dabei verständlicherweise kein Platz.
Um die Zeitenwende war das im Frühjudentum vollkommen anders. Sich in diese andere, diese fremde Welt zur Zeit Jesu hineinzuversetzen und hineinzudenken, ist nicht ganz einfach. Die Menschen rechneten damit, dass böse Kräfte wie Dämonen ständig am Werke waren und sich in einer Auseinandersetzung mit guten und göttlichen Kräften befanden. In der Apokalyptik, die mit dem Ende dieser Welt rechnete, gab es geradezu eine Dämonologie. Der Satan stand an der Spitze aller Dämonen. „Sein Ziel ist es …, zusammen mit seinen Helfershelfern, den Dämonen, die Menschen an Leib und Seele zu schädigen und sie von Gott und seinem Willen abzubringen“ (Angelika Strotmann: Der historische Jesus: eine Einführung. Paderborn 3. Auflage 2019, S. 129). In Bezug auf die Dämonen hatte man feste Vorstellungen. Sie werden „als eine Art ‚Hausbesetzer‘ des Menschen angesehen, die das ‚Ich‘, die Identität des Menschen, aus seinem Körper vertrieben haben oder es zumindest unter Kontrolle halten“ (ebd.). Menschen, die von Dämonen geplagt waren, waren also nicht mehr sie selbst.
Auch Jesus von Nazareth hat dieses Verständnis der Wirklichkeit geteilt. Er ist auf seinem Weg durch Galiläa und Judäa immer wieder Menschen begegnet, die in besonderem Maße auffällig waren. Ihr außergewöhnliches Verhalten wurde auch von ihm auf den Einfluss von Dämonen zurückgeführt. Jesus wird gesehen haben, dass sie nicht „Herr im eigenen Hause“ waren. Ihr besonderes Leiden wird ihn angerührt haben. Er sah es als seine Aufgabe an, ihnen ihre Freiheit zurückzugeben. Im Lukasevangelium wird ein Wort Jesu wiedergegeben, das wahrscheinlich historisch ist: „Wenn ich aber durch den Finger Gottes die Dämonen austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen“ (Lk 11,20). Die Dämonenaustreibungen waren für Jesus also ein Zeichen, dass Gott dabei war, sein neues Reich zu errichten. Wenn Menschen, die von Dämonen geplagt wurden, frei wurden, konnte die neue Zeit nicht weit sein. Die Macht des Satans, des Herrn der Dämonen, war – endlich – an das Ende gekommen: Jesus „sprach aber zu ihnen: Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz“ (Lk 10,18). Auch dieser Satz, der in der Forschung vielfach untersucht worden ist, geht wahrscheinlich direkt auf den historischen Jesus zurück. Vielleicht verbirgt sich hinter ihm sogar so etwas wie ein Berufungserlebnis Jesu. Wenn der Satan vom Himmel fällt, ist seine Macht endgültig gebrochen. Er hat keinen Einfluss mehr. Gott allein gehört die Zukunft.
Wir rechnen aufgrund unseres durch die Naturwissenschaften geprägten Weltbildes heute nicht mehr mit Dämonen. Die damals auffälligen Menschen litten wahrscheinlich an psychischen Erkrankungen, die dazu führten, dass ihr Verhalten für Außenstehende sonderbar war. Genaue medizinische Diagnosen sind natürlich kaum noch möglich. Wie im Zusammenhang mit den Heilungen bereits ausgeführt, scheint Jesus ein ganz besonderes Charisma gehabt zu haben, das dazu führte, dass Menschen, die ihr Vertrauen auf ihn gesetzt hatten, psychisch gesund wurden. Das wird in den Erzählungen auf eine oft dramatische Weise, die vielleicht hier und da auch überzeichnet, geschildert (Mk 1,23-26):
„Und alsbald war in ihrer Synagoge ein Mensch, besessen von einem unreinen Geist; der schrie: Was haben wir mit dir zu schaffen, Jesus von Nazareth? Bist du gekommen, uns zu vernichten? Ich weiß, wer du bist: der Heilige Gottes! Und Jesus bedrohte ihn und sprach: Verstumme und fahre aus von ihm! Und der unreine Geist riss ihn hin und her und schrie laut und fuhr aus von ihm.“ Ob jede einzelne, in den Evangelien überlieferte Dämonenaustreibung historisch gewesen ist, ist schwer zu sagen. Sicher aber ist, dass die Dämonenaustreibungen im Rahmen des Handelns Jesu eine nicht unwichtige Rolle gespielt haben. Das hat die neuere Jesusforschung immer wieder betont. „Dämonenaustreibungen gehören zu den am sichersten bezeugten Taten Jesu und stehen im Zentrum seines Wunderwirkens. Jesus selbst nimmt zu ihnen Stellung (Lk 11,20par; 13,32), von seinen Gegnern werden sie als unbestrittene Tatsache anerkannt (Mk 3,22)“ (Bernd Kollmann: Neues Testament kompakt, Stuttgart 2014, S. 87). Grundsätzlich bleibt festzuhalten, dass nicht nur die Heilungen Jesu, sondern auch seine Dämonenaustreibungen, d. h. seine Heilungen psychisch erkrankter Menschen nach dem heutigen Stand der Bibelwissenschaft historisch sind. Wie dagegen mit Rettungswundern wie etwa der Sturmstillung, die eine eigene Gattung sind, umzugehen ist, soll im dritten Beitrag dieser kleinen Reihe am 19. August erörtert werden. Es spricht einiges dafür, hier zu einem anderen Urteil zu kommen.