Kennt Ihr Margarete Susman?

von Antje Schrupp
Wahrscheinlich nicht, denn leider ist die jüdische Religionsphilosophin (1872-1966), die über viele Jahrzehnte hinweg zu gesellschaftlichen, religiösen und politischen Themen publiziert hat, heute ziemlich unbekannt. Obwohl sie zu ihrer Zeit sehr aktiv und auch sogar berühmt war.Dass Susman vom Kulturbetrieb vergessen wurde, hat viele Gründe.
Einer ist natürlich, dass sie eine Frau war, ein anderer vielleicht, dass sie kein „systematisches“ Werk hinterlassen hat. Sie schrieb vergleichsweise selten Monografien, sondern eher Zeitungsartikel, Vorträge, Briefe und so weiter. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit war es, Rezensionen zu schreiben, also dem Werk anderer Aufmerksamkeit zu verschaffen. Oder auch offene Briefe, in denen sie auf Texte anderer eingeht, sie kritisiert und analysiert. Ich finde das ja eine sehr schöne und fruchtbare Art, publizistisch tätig zu sein, die allerdings nach klassischen Kriterien als weniger wichtig erscheint.Susmans „Denken im Dialog“ oder „Denken in Beziehungen“, wenn man so wilo, zeigt sich auch darin, wie viele den Austausch mit ihr schätzten. Elisa Klapheck, die eine sehr lesenswerte Biografie über Susman geschrieben hat, beschreibt das so:

Wo immer Margarete Susman lebte – um die Wende zum 20. Jahrhundert in München und Berlin, zu Beginn des Ersten Weltkrieges in der Schweiz, danach im rheinischen Säckingen, bis 1933 immer wieder längere Phasen in Frankfurt am Main –, zog es bedeutende Menschen zu ihr hin, um in der direkten Begegnung von ihr inspiriert zu werden. Susmans von so vielen bezeugte grenzenlose Empathie gegenüber anderen Menschen, zugleich ihre Fähigkeit, die verschränkten großen, geistigen Konstellationen der Gegenwart zu erhellen und das politische Geschehen religiös wie auch philosophisch zu deuten, beeindruckte jeden und beglückte viele. Dichter und Philosophen, Künstler und Theologen, junge Menschen, alte Menschen, Freunde und Verwandte, suchten ihre Nähe. … Es zog sie zu Margarete Susman wie zu einem Zaddik, einem Gerechten, um von ihm Lebensweisung zu erhalten – jedoch bei ihr zu einer Zaddika, die geistig und kulturell den Herausforderungen ihrer Zeit gewachsen war. Was sie von Margarete Susman empfingen, schlug sich in vielen Werken und Briefen nieder.

Ihr Haupt-Lebenswerk hat Susman vor der Shoah verfasst. Sie war auf der Suche nach einem fruchtbaren Zusammenwirken von jüdischer und christlicher Kultur, Geschichte, Philosophie – ein Projekt, das nach 1945 erstmal obsolet war. Gerade deshalb finde ich es aber heute wieder ausgesprochen interessant, sich mit ihrer Arbeit auseinanderzusetzen. Denn es wird ja zunehmend klar, dass sich jüdisches Leben, jüdische Kultur, jüdisches Denken in Europa nicht auf die Bezugnahme zur Shoah beschränken darf. Das in diesem Jahr begangene Jubiläum „1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland“ zeigt das ebenso wie die Kritik jüdischer Intellektueller wie Max Czollek, Sasha Salzman und anderer an einem „Versöhnungstheater“, in dem die Auseinandersetzung mit dem Holocaust letztlich die Funktion bekommt, das eigene deutsche Gutsein zu bestätigen.Wenn nicht Integration, Versöhnung und „Wiedergutsein“ das Thema ist, sondern Desintegration, Konflikt und bleibende Erinnerung an das eben letztlich nicht Wiedergutzumachende – wie ist dann das Verhältnis der jüdischen zur übrigen europäischen Kultur zu denken? Wie begegnen wir uns, wie entwickeln wir uns weiter, streitend, zuhörend, lernend, unterschiedlich? Gerade dazu gibt es bei der Lektüre der Texte von Margarete Susman viele Anregungen, denn genau diese Auseinandersetzung zwischen Integration und Desintegration war ihr Lebensthema. Sie hatte selbst eine Zeitlang überlegt, zum Christentum zu konvertieren, sich dann aber dagegen entschieden.
Leider ist die Zugänglichkeit ihrer Texte nicht gerade berauschend. Sie sind verstreut, nur teilweise erhältlich, oft antiquarisch und teuer. Immerhin gibt es genug, um mit der Lektüre zu beginnen. Besonderer Dank gebührt dabei der Germanistin Barbara Hahn, die auf der Seite www.margaretesusman.com zahlreiche ihrer Aufsätze und Zeitungsartikel als pdfs verfügbar gemacht hat. Zum Beispiel ihren Text „Die Revolution und die Frau“ von 1918, wo sie über die Gleichberechtigung und die politische Rolle der Frauen in Deutschland nachdenkt. Ebenso aktuell und interessant ein Offener Brief von 1930, in dem es darum geht, was man gegen den aufsteigenden Nationalsozialismus tun sollte. Oder ein Vortrag „Der Sinn des Anarchismus“ von 1947. Aber es ist immer noch nur eine kleine Auswahl dessen, was Susman geschrieben hat. Vielleicht ist das Jubiläum ja auch ein Anlass, dass hier Verlage nochmal aktiv werden.
Nächstes Jahr, am 14. Oktober 2022, ist der 150. Geburtstag der jüdischen Religionsphilosophin Margarete Susman (1872-1966). Aus diesem Anlass hat sich auf Initiative der Schweizer Zeitschrift Neue Wege ein Arbeitskreis gegründet, in dem ich auch mitarbeite. Wir wollen rechtzeitig auf dieses Jubiläum aufmerksam machen und interessierte Kreise / Personen / Institutionen dazu anregen, etwas zu Susmans 150. Geburtstag zu planen oder, wenn das schon der Fall ist, sich zu vernetzen und so weiter.
Ich habe mich bisher dreimal mit ihrem Denken beschäftigt:
Susman und der Anarchismus
Susman als Differenzfeministin
Ihr Essay „Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes“ .
Von daher meine Bitte an euch: Spread the word, verteilt den Aufruf, weist interessierte oder potenziell interessierte Menschen auf das Jubiläum hin. Und tragt Ideen, Projekte, Vorhaben zusammen – entweder ihr schreibt mir oder direkt an die Arbeitsgruppe unter redaktion@neuewege.ch.
Ich wünsche schöne Sommerwochen und schicke herzliche Grüße,Antje 
Quelle: Aus Liebe zur Freiheit (Blog von Antje Schrupp) Antje Schrupp, PolitikwissenschaftlerinJournalistin, Bloggerin Buchautorin und Übersetzerin.

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