Kirche in der und für die Krise – eine Gemeinde, mit den Menschen, charismatisch, theologisch am Puls der Zeit

von Dr. Martin Fricke

Die Krise ist der Normalfall geworden. Wahrscheinlich war sie das immer schon. Zuviel Ordnung, ein Übermaß an Routine würde uns der Spannkraft berauben, die das Trachten nach dem Reich Gottes (Matthäus 6,33) braucht. Nur stand uns die Krise selten so drastisch vor Augen, trifft uns scheinbar so unmittelbar in´s Mark wie heute.

Ich denke hier einmal lediglich an die Krise der Kirche. Wahrhaftig, es gibt genug andere… Siehe unten!
Eine Evangelische Kirche in der Krise, eine Kirche für die Krise – wie müsste sie sein? Vier persönliche Thesen:

1. Wir handeln als eine Kirche
Das klingt selbstverständlich. Aber der Segen liegt im Detail. Denn die Kirche ist wesentlich Gemeinde. Die Synode des Evangelischen Kirchenkreises Düsseldorf hat im Frühjahr als Zielbild formuliert, „als eine Gemeinde“ zu handeln. Nicht nur kirchenrechtlich ist das eine echte Herausforderung. Wenn wir weniger werden, müssen wir zusammenrücken. An die Stelle eines Klein-Klein, wer mit wem „kann“ und wie „eigen“ ist, muss eine Haltung treten, mit der wir einander im Bezugsrahmen einer (noch) großen, zunehmend auch ökumenischen Gemeinschaft wahrnehmen und miteinander handeln. Die Kunst wird sein, organisatorisch groß und einfach, zugleich aber, was Kontakte mit den Menschen, Quartiers- und Lebensweltbezug und Teilhabe angeht, differenziert, kleinteilig und lokal zu denken.

2. Wir verabschieden uns von den Angebots- und Verwaltungsstrukturen der Volkskirche
Diese Herausforderung ist mindestens so groß wie die Perspektive einer evangelischen Gemeinde in Düsseldorf. Wenn unsere finanziellen Ressourcen schwinden und uns nichts Besseres einfällt, als blind „zu sparen“, bedeutet das in den aktuellen Strukturen, dass wir in naher Zukunft zwar noch eine Verwaltung haben werden, uns aber von Kernaufgaben in der Seelsorge oder der Bildung verabschieden müssen. Irgendwann wird es dann auch nichts mehr zu verwalten geben… Die Kunst wird sein, Verwaltungsordnungen und -strukturen an die Realität einer Kirche anzupassen, die keine Volkskirche im bisherigen Sinne mehr ist. An die Realität einer Kirche nämlich, die verstanden hat, dass sie als verwaltende Angebotskirche keine Zukunft hat, und die eine gestaltende „Kirche mit den Menschen“[1] sein will.

3. Wir werden unsere Charismen wiederentdecken und neu beleben
Allen, die nun wie Kaninchen vor der Schlange durch die Herausforderungen unumgänglicher Strukturanpassungsprozesse paralysiert sind, sei gesagt, dass die vielzitierte „Freiburger Studie“[2] Mitglieder- und Kirchensteuerschwund keineswegs als unabänderliches Naturgesetz, sondern als Tatsache interpretiert, die durch kirchliches Handeln beeinflussbar ist. Wie könnte ein solches Handeln aussehen? Dazu ein Gleichnis aus der Welt des Business und Marketing[3]: British Rail, auf der Insel ähnlich hassgeliebt wie unsere Deutsche Bahn und ebenso wie sie verzweifelt bestrebt, die Kundenzufriedenheit zu steigern, befragte ihre Passagiere, wie ihr Service auf der Strecke London – Paris gesteigert werden könne. Ergebnis: Die Kund*innen wollten so schnell wie möglich an´s Ziel und aus dem Zug kommen. Also baute man für sechs Milliarden Pfund eine neue Strecke und entwickelte schnellere Züge. Am Ende hatte man 30 Minuten gewonnen. Nur – eine positive Entwicklung der Kundenzufriedenheit war nicht messbar. Wie wäre es gewesen, wenn man auf den Alternativvorschlag eines walisischen Werbemanagers gehört hätte, stattdessen für ein Zehntel der investierten Summe attraktive Zugbegleiter*innen einzustellen und auf der Strecke Veuve Clicquot und Château Pétrus auszuschenken? Womöglich hätte es Beschwerden über die Kürze der Fahrzeit gegeben… Wie wäre es, wenn wir unseren Einfallsreichtum und unsere Phantasie, mindestens so intensiv wie in Strukturdebatten, darin investieren, mit Gottesdiensten zu experimentieren, die wie Champagner prickeln, Seelsorge zu entfalten, in denen Segen für ganz viele spürbar wird, Bildungsprozesse als kritische und konstruktive Formate zu profilieren, in denen sich die Kirche mit den Menschen süffig wie ein guter Rotwein entwickelt? Ich jedenfalls träume von Synoden, die sich auch (anderes wäre unverantwortlich), aber nicht nur und nicht nur in erster Linie mit sich selbst – ihren Strukturen, Organisationsformen und institutionell-institutionalisierten Befindlichkeiten – beschäftigen; von Synoden und Presbyterien, die mutig genug sind, die Geschäfte der Verwaltung Geschäft sein zu lassen und den vielen, vielen Charismen unter uns freien Raum zu geben. Wer weiß – vielleicht können uns unsere Sitzungen dann nicht lange genug dauern…

4. Wir werden neu Theologie treiben
Um mit unserer Verkündigung, Seelsorge und Bildung mit den Menschen zu sein, brauchen wir eine Theologie, die am Puls der Zeit ist; weniger beschäftigt also mit der Interpretation der Überlieferungen als mit der Interpretation von Ereignissen und Entwicklungen unserer Gegenwart mithilfe der Überlieferungen. Vorbilder gibt es! Vor 100 Jahren versuchte beispielsweise Paul Tillich, moderne Technik und Kultur theologisch zu verstehen. Heute wären vergleichbare Ansätze etwa in Bezug auf „Künstliche Intelligenz“ oder den sog. Transhumanismus zu entwickeln. Wenn sie über moralische Stellungnahmen vieler Denkschriften hinausgingen, könnten sie die Kirche (wieder) zu einem Raum werden lassen, in dem lebendige Gespräche über Grundfragen des Menschen-Seins vor Gott und miteinander stattfinden. Ich träume von einer Kirche, die sich mit den Krisen unserer Zeit auseinandersetzt; von einer Kirche, in der es Diskussionen und Irritationen gibt, in der Menschen zornig sein können und lieben, in der Fragen ihren Ort haben und Streit, geteilter Glaube und geteilter Unglaube; von einer Kirche, die lebt, weil sie ihre Türen dem Geist des Ewigen ganz weit öffnet, der weht, wo er will.

PS: Bei Taufen oder Hochzeiten nenne ich den Leuten, die „etwas für die Jugendarbeit der Gemeinde“ spenden wollen, keine Kontonummer mehr. Ich lade sie ein, bei einem Gemeindeprojekt der nächsten Zeit mitzumachen. Die Kirche lebt nur durch uns alle! Durch Engagierte, durch Distanzierte, und wer weiß – vielleicht demnächst auch wieder durch einen einstmals ausgetretenen, nun frisch getrauten Bundesfinanzminister.

Seien Sie behütet!
Martin Fricke


[1] Steffen Schramm / Lothar Hoffmann, Gemeinde geht weiter. Theorie- und Praxisimpulse für kirchliche Leitungskräfte, Stuttgart 2017.

[2] David Gutmann / Fabian Peters, #projektion2060 – Die Freiburger Studie zu Kirchenmitgliedschaft und Kirchensteuer. Analysen – Chancen – Visionen, Neukirchen-Vluyn 2021.

[3] Erzählt von Frank Dopheide in seinem Büchlein Gott ist ein Kreativer, kein Controller. Über das Leben außerhalb der Effizienzfalle, oder warum wir mit unserem Lebenspartner kein Jahresgespräch führen sollten, Berlin 2021, 87ff.

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