Kopftuchmädchen?

Teil II: Die rechtliche Lage und Debatte

Dr. Uwe Gerrens
von Dr. Uwe Gerrens

Eine erwachsene Frau entscheidet selbst, was sie anzieht. Der Gesetzgeber jedes auch nur halbwegs liberalen Rechtsstaates redet ihr da nicht hinein. Solange kein öffentliches Ärgernis erregt wird (was bei uns z.B. der Fall wäre, wenn jemand nackt durch die Innenstadt liefe) ist in Kleidungsfragen jeder Blödsinn und jede Geschmacklosigkeit erlaubt. Der Staat mischt sich da nicht ein.

Foto: wikimedia_commons.jpg

Auch beim Kopftuch handelt es sich um ein Bekleidungsstück, in Deutschland seit Jahrhunderten im Gebrauch. Es erregt kein öffentliches Ärgernis im Sinne des Gesetzes.

Eine Pflicht zur Kopfbedeckung, wie sie in manchen Golfstaaten oder im Iran praktiziert wird, ist illiberal. Sie lockt zur Gegenwehr: Iranerinnen, denen das nicht passt, tragen das Kopftuch innerhalb ihres Landes betont nachlässig und legen es im Ausland ab, oft schon auf der Toilette im Flugzeug. Auch ein generelles Verbot des Kopftuches ist illiberal. In diese Richtung ging zeitweise die Entwicklung in der Türkei. 1925 unter Atatürk wurde der Hut als die einzig für Männer zulässige Kopfbedeckung gesetzlich festgelegt, eine Zwangseuropäisierung, die den Fes, eine damals ungefähr hundert Jahre lang unter Männern verbreitete Kopfbedeckung, untersagte. Das Verbot eines Kopftuches ergab sich im öffentlichen Raum aus einem Urteil des türkischen Verfassungsgerichts aus dem Jahr 1937 zur Laizität und wurde nach dem Militärputsch von 1980 durchgesetzt. Es betraf Frauen im öffentlichen Dienst, Rechtsanwältinnen, Journalistinnen, Parlamentarierinnen, Lehrerinnen, Studentinnen und jede Frau, die ein öffentliches Gebäude betrat, eine Behörde oder ein Postamt etwa. Die kemalistische Elite betrachtete das Tragen eines Kopftuchs als das politische Symbol einer islamistischen Bewegung. Erdoğan und die AKP hingegen versuchen seit einigen Jahren das Rad wieder zurückzudrehen, indem sie Kopftücher im öffentlichen Raum zulassen (und wie manche befürchten: demnächst vorschreiben). Damit bestätigen sie Befürchtungen der Kemalisten, wonach die derzeitige türkische Regierung einen ideologischen Kampf der Islamisten gegen den laizistischen Staat betreibe.  

Ich kann die Befürchtung der Kemalisten nachvollziehen und gehöre erklärtermaßen nicht zu den Erdoğan-Freunden. Dennoch kann ich diejenigen deutschen Feministinnen nicht verstehen, die glauben, es fördere die Rechte von Frauen, wenn Papa Staat Frauen das Tragen von Kopftüchern (teilweise) untersagt. Ich sehe nicht, was an einer Einschränkung von Frauenrechten feministisch sein soll. Diese Position wird auch dadurch nicht überzeugender, wenn eine prominente Feministin wie Alice Schwarzer sie vertritt. Noch weniger überzeugt mich ihre Entscheidung, das in der BILD-Zeitung zu publizieren. Merkt sie nicht, wer sie da instrumentalisiert?     Dass unter Türkinnen im Ausland die Kopftuchquote sehr viel höher ist als unter Iranerinnen im Ausland, möchte ich – zumindest teilweise – als Gegenreaktion auf patriarchale staatliche Bevormundung in den Heimatländern deuten.  Ich sehe darin – zumindest teilweise – einen feministisch deutbaren Freiheitswillen: Macht mir keine Vorschriften! Meine Haare gehören mir! „Pro Choice“ – einmal in etwas anderem Kontext.

Foto: © DASA Arbeitswelt Ausstellung, Dortmund ; Licence: CC BY-NC-SA .jpg

Nach deutschem Recht dürfen erwachsene Frauen selbst entscheiden, was sie auf dem Kopf tragen wollen oder nicht. Dennoch berichten fast alle Kopftuchträgerinnen von Diskriminierungserfahrungen. Die ohnehin schwierige Wohnungssuche kann erschwert werden. Ein Kopftuch auf dem Bewerbungsfoto oder beim Bewerbungsgespräch erschwert die Jobsuche (ausgenommen: bei Reinigungsdiensten). Taucht die Neue während der Probezeit erstmalig mit Kopftuch auf, befindet sie sich arbeitsrechtlich in einer schwachen Position. Besser wird es nach der Festanstellung: Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshof darf der Arbeitgeber das Tragen eines Kopftuches nur dann verbieten, wenn eine ausdrückliche Regelung im Betrieb besteht, wonach sämtliche religiöse Symbole (also auch die Kippa oder das Kreuz am Hals) im Betrieb verboten sind und dieses Verbot sich auf Kundenkontakte beschränkt.
Viele Kopftuch tragende Musliminnen berichten von verbalen oder physischen Angriffen auf der Straße oder in öffentlichen Räumen. Das gelangt selten in die großen Medien. Dennoch dürfte es häufiger vorkommen als Angriffe gegen männliche Juden, die Kippa tragen. Allerdings laufen auf deutschen Straßen auch sehr viel mehr Musliminnen mit Kopftuch als Juden mit Kippa herum, so dass, pro Person gerechnet, Kippa-Träger möglicherweise häufiger überfallen werden. Das eine sollte nicht gegen das andere ausgespielt werden. Physische Gewalt sollte für Außenstehende immer ein Grund sein, sofort die Polizei zu rufen. Textilien sind nie ein Rechtfertigungsgrund für Gewalt. Bei verbalen Beleidigungen gibt es einen Grenzbereich, den man ohne Jura-Studium nicht überblickt. Thilo Sarrazins Polemiken gegen „Kopftuchmädchen“ mögen sich juristisch im Rahmen des gerade noch Zulässigen bewegen. Doch auch diejenigen, die Textilien auf dem Kopf für total bescheuert halten, sollten sich an die Grundregel halten, nie über Menschen in menschenverachtender Weise zu reden.  

Ein eigenes Thema sind Minderjährige. Die deutsche Rechtslage ist im Gesetz über die Religionsmündigkeit von 1921 geregelt: Mit vierzehn wird eine Jugendliche uneingeschränkt religionsmündig und darf deshalb eigenständig über einen etwaigen Kopftuchgebrauch entscheiden, auch gegen den Willen ihrer Erziehungsberechtigten. Für den Spezialfall einer Konversion ihrer Eltern hat sie sogar schon in jüngeren Jahren eigenständige Rechte. Ab dem Alter von 10 Jahren ist sie zu „hören“, wenn sie in einem anderen Bekenntnis als bisher erzogen werden soll; ab einem Alter von 12 Jahren darf sie nicht gegen ihren Willen in einem anderen Bekenntnis als bisher erzogen werden.
Über Religionsausübung von Kindern, die noch nicht zehn sind (z.B. Säuglingstaufe, Beschneidungen männlicher Säuglinge im Judentum und Islam, Ernährungsfragen (koscher und halal), Kindergottesdienst, konfessionelle Kitas, Teilnahme am Religionsunterricht in der Schule, Besuch einer vom deutschen Staat nicht verbotenen privaten Koranschule in der Freizeit, ggf. die katholische Erstkommunion) entscheiden nach dem Gesetz von 1921 die Erziehungsberechtigten. Fast alle klassischen muslimischen Rechtsgelehrten schreiben die Haarbedeckung nur für geschlechtsreife Frauen vor. Deshalb kann man streiten, ob es sich beim Kopftuch kleiner Mädchen überhaupt um eine Form der Religionsausübung handelt, allenfalls für eine sehr kleine Minderheit der Musliminnen und Muslime. Möglicherweise würde das deshalb nicht als Ausübung kindlicher Religionsfreiheit gewertet, ein etwaiges Verbot also kein Eingriff in die kindliche Religionsfreiheit (Art. 4 GG). Ob es unzulässig in elterliche Erziehungsrechte (Art. 7 Abs. 1 GG) eingriffe, übersehe ich nicht. Auf jeden Fall bliebe ein Kopftuchverbot für Kitas überflüssige Symbolpolitik, solange Kopftücher in Kitas ohnehin fast nie getragen werden.  

Mitte Dezember wurde eine von vielen Prominenten unterzeichnete Petition von „terres des femmes“ abgeben, wonach Kopftücher an Kindergärten und Schulen bis zur Volljährigkeit verboten werden sollten. Mit deutschem Verfassungsrecht ist das unvereinbar. Das kann man auch dem für diese Petition verfassten Gutachten des Tübinger Juraprofessors Martin Nettesheim entnehmen. Nettesheim zufolge, kann der Staat religionsmündigen Schülerinnen und Schülern nicht verbieten, in der Schule religiöse Symbole (Kopftuch, Kippa, Kreuz am Hals) zu tragen. Er darf das aber, Nettesheim zufolge, bei den jüngeren machen. Auch dort handele es sich um einen Eingriff in elterliche Erziehungsrechte (Art. 7 Abs. 1 GG), doch sei dieser verhältnismäßig und deshalb verfassungskonform. Nettesheim gesteht dem Gesetzgeber einen gewissen Spielraum bei der Frage zu, ab wann Jugendliche religionsmündig werden, akzeptiert aber die 14-Jahres-Grenze und macht keine Alternativvorschläge. Während die Petition allein die Kopftücher verbieten will, religiöse Symbole anderer Religionen nicht erwähnt, und das Kopftuchverbot für sämtliche „Kinder“ unter 18 Jahren gelten soll, legitimiert Nettesheim das Verbot sämtlicher religiöser Symbole für Kinder und Jugendlichen unter 14. Während terres des femmes ein „Bundesgesetz“ fordert, sieht Nettesheim die Zuständigkeit für Bildungsfragen primär bei den sechzehn Bundesländern. Ich weiß nicht, wie terre des femmes dieses Malheur passieren konnte, vermute aber, dass die Initiatorinnen das von ihnen bestellte Gutachten nicht so genau zur Kenntnis nehmen wollten (42 Seiten, juristische Fachsprache) und die prominenten Unterzeichnerinnen und Unterzeichner auch nicht. Immer wieder erlebe ich, dass eine ideologisierte Betrachtungsweise des Islam die Standards für einen redlichen und vernünftigen Umgang mit Religionsfreiheit senkt. Zum Glück machen die meisten Juristinnen und Juristen einen derartigen Unfug nicht mit, viele Medien allerdings schon und etliche Prominente auch. Die Petition trägt die Überschrift: „Den Kopf frei haben“. Dass auch männliche Juden manchmal etwas auf dem Kopf haben, haben die Initiatorinnen nicht bedacht oder wollten sich nicht erinnern. Irrtümlich sehen sie in der Freiheit auf dem Kopf einen Erweis für die Freiheit im Kopf.

https://www.frauenrechte.de/unsere-arbeit/themen/gleichberechtigung-und-integration/kinderkopftuch
https://frauenrechte.de/images/downloads/presse/kinderkopftuch/Nettesheim-Gutachten-Kinderkopftuch-Endfassung.pdf

Religionsfreiheit schützt nicht nur die Rechte religiöser Menschen, sondern auch das Recht nicht-religiöser Menschen, keine Religion ausüben zu müssen. Sie begründet auch ein Recht von Schülerinnen und Schülern (ggf. in der Entscheidung ihrer Erziehungsberechtigten), nicht am Religionsunterricht oder an Schulgottesdiensten teilnehmen zu müssen. Kein Zwang in der Religion! Wer gegen angeblich übertriebene Religionsfreiheit polemisiert, weil er oder sie Religion nicht mag, sägt an dem Ast, auf dem er oder sie sitzt.

Dem Grundgesetz zufolge steht Religionsfreiheit nicht unter Gesetzesvorbehalt: Wo immer ein Konflikt zwischen diesem Grundrecht und einem einfachen Gesetz auftritt, erhält das Grundrecht „Vorfahrt“. Viele Auslegungskonflikte entstehen da, wo zwei Grundrechte konkurrieren. Hier besteht die schwierige Aufgabe einer Grenzziehung:

Beim Streit um das Kopftuch der Lehrerin an einer bekenntnisoffenen öffentlichen Gemeinschaftsschule mussten die Gerichte definieren, wie sich die Religionsfreiheit der Lehrerin (Art. 4 GG) zum Erziehungs- und Bildungsauftrag der öffentlichen Schulen (Art. 7 Abs. 1 GG) verhält. Auch wenn die Rechtsprechung manch einem oder einer wie ein Zickzackkurs vorgekommen sein mag, ergaben sich die Unterschiede vor allem daraus, dass die einzelnen Fälle unterschiedlich gelagert waren. Die Kopftuch tragende Lehrerin Fereshta Ludin konnte sich ab 1998 erfolgreich gegen die Nichteinstellung in den Baden-Württembergischen Staatsdienst durch die Instanzen klagen: Das Bundesverfassungsgericht urteilte nicht, wie manchmal kolpotiert, dass sie das Kopftuch trage dürfe, sondern nur, dass die Landesschulverwaltung ihr das nicht ohne gesetzliche Regelung verbieten durfte. Daraufhin erließ Baden-Württemberg das entsprechende Gesetz, Ludin wurde mit neuer Begründung nicht eingestellt. Die anderen 15 Länder handhabten das unterschiedlich: Einige regelten es nicht gesetzlich (und erlaubten ihren Lehrerinnen damit das Kopftuch). Das Nordrhein-Westfälische Gesetz verbot Kopftücher und erwähnte Kippa und Kreuze nicht, womit es die beiden letzteren scheinbar erlaubte. Verfassungsrechtlich ist das bedenklich, allerdings urteilte das Düsseldorfer Verwaltungsgericht, dass sich bei verfassungskonformer Interpretation daraus implizit ein Verbot anderer religiöser Symbole (Kippa, Kreuz) ergäbe; nur hätte jemand klagen müssen. Das Bundesverfassungsgericht erklärte gesetzliche Eiertänze wie den nordrhein-westfälischen im Jahr 2015 für in Teilen für verfassungswidrig und deshalb nichtig. Die Länder stehen seither vor der Alternative, die Sache gar nicht gesetzlich zu regeln (und damit religiöse Symbole für Lehrkräfte zu erlauben), oder – wie in Berlin (inzwischen durch das Bundesarbeitsgericht gekippt) – sämtliche religiösen Symbole für alle Lehrkräfte gleichermaßen gesetzlich zu verbieten, oder – wie in Nordrhein-Westfalen – sie gesetzlich zu verbieten, wenn im konkreten Einzelfall der Schulfriede (und damit der Erziehungs- und Bildungsauftrag nach Art. 7,1 GG) gefährdet wird. Die dritte Variante schuf neue Auslegungs- und Abgrenzungsprobleme: Wo wird der Schulfriede durch den Kopftuchgebrauch an sich gefährdet und wo durch lautstark dagegen krakeelende Kopftuchgegner(innen)?  

Meiner Überzeugung nach, ließe sich der Kopftuchgebrauch von Lehrerinnen pädagogisch vernünftig regeln, wenn drei Prinzipien des aus der politischen Bildung stammenden sog. Beutelsbacher Konsenses von 1976 in Bezug auf Religion fortgeschrieben würden: Gemäß dem Überwältigungsverbot (auch: Indoktrinationsverbot) dürfen Lehrkräfte Schülerinnen und Schülern nicht ihre Meinung aufzwingen, sondern sollen diese dazu befähigen, sich mit Hilfe des Unterrichts eine eigene Meinung zu bilden. Die Lehrkraft darf (möglicherweise: soll) ihre eigene Meinung kundtun, muss aber nach dem Gebot der Kontroversität Themen als kontrovers darstellen, wenn sie das in Wissenschaft oder Politik auch sind. Sie muss also deutlich machen, dass andere Überzeugungen als ihre eigene möglich und sinnvoll sein können. Das Prinzip Schülerorientierung soll Schülerinnen und Schüler in die Lage versetzen, die eigene Situation zu analysieren und nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene Lage im Sinne eigener Interessen zu beeinflussen.

Eine muslimische Lehrerin (mit oder ohne Kopftuch), die diese Grundsätze anwendet, kann meiner Überzeugung nach eine gute Pädagogin sein. Sie sollte Schülerinnen mit und ohne Kopftuch gleichermaßen respektieren und deutlich machen, dass diese (resp. deren Erziehungsberechtigten) sich in Bezug auf eine etwaige Verwendung von Textilien anders entscheiden können als sie selbst. Wenn sie diese Toleranz nicht aufbringen kann, bestehen Zweifel an ihrer Eignung als Pädagogin in einem pluralistischen Staat. Ich selbst trage kein Kopftuch. Nach geltendem dresscode machen das nur die ganz harten Jungs, Piraten zum Beispiel, die ihren Knoten allerdings nicht unter dem Kinn, sondern oben am Kopf machen, auch manche Rocker, nur zu sehen, wenn sie ihren Motorradhelm ablegen. Wenn ich wie ein Rocker herumliefe und jemand meinte, Lederkluft passe nicht zu mir, das Tuch nicht zu meinen Locken, müsste ich das als Meinungsäußerung hinnehmen. Es bliebe aber meine Entscheidung, ob ich mir diese Kritik zu Herzen nähme. Soweit ich mich kenne, werde ich mich nie so anziehen, obwohl…, vielleicht ämm…, an Karneval?

Foto: pixabay.jpg

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert