Teil I: Das Kopftuch in den drei westlichen Religionen
Als Mann und Christ bin ich nicht persönlich betroffen. Ich bin nicht besonders befugt, darüber zu urteilen, was Frauen auf ihrem Kopf tragen sollen oder nicht sollen. Meine Meinung darf ich aber äußern. Ich habe auch schon weibliche Meinungen zu der Frage erdulden müssen, ob eine bestimmte Krawatte zu einem bestimmten Jackett passt. Ich habe das mit den Ohren angehört, nicht mit den Fäusten.
In der christlichen Kunst trägt Maria meist einen blauen Überwurf, der auch ihren Kopf bedeckt, so – unendlich traurig – in Peruginos Pietà aus den Uffizien in Florenz, gemalt 1494-1495. Die blaue Farbe signalisierte in mittelalterlicher Symbolik Unschuld, die Kopfbedeckung nach damaligem dresscode den Stand der Ehe: Sie ist mit Josef verheiratet, „unter der Haube“, während Maria Magdalena (rechts die Hände faltend) als ledig gemalt wurde. Anders ist es noch bei der Ankündigung der Geburt Jesu durch den Engel (Lk 1,26–38): Da Maria da noch unverheiratet war, fehlte ihre Kopfbedeckung – nicht nur in der italienischen Renaissance sondern überraschenderweise auch auf einer ähnlich alten osmanischen Miniatur.
Das Alte Testament erwähnt mehrfach Frauen, die ein Kopftuch tragen, ohne das explizit zur Pflicht zu machen. Die talmudischen Gelehrten stritten im fünften und sechsten nachchristlichen Jahrhundert lange, ob die Pflicht zur Kopfbedeckung ein göttliches Gebot oder eine rabbinische Vorschrift sei. Dass Frauen ihren Kopf bedecken, erschien ihnen selbstverständlich, strittig war die Begründung. Wenn eine verheiratete Frau ohne Kopfbedeckung auf die Straße ging, konnte das damals für ihren Mann ein Grund für die Ehescheidung sein; allerdings gab es einen dresscode, wonach nur Prostituierte so herumliefen. Warum aus späteren Jahren trotz Kopfbedeckungsgebotes Jahren viele Bilder und Zeichnungen von mittelalterlichen Jüdinnen in Westeuropa existieren, auf der sie ohne Kopfbedeckungen zu sehen sind, ist nicht ganz klar (so Therèse und Mendel Metzger, Jüdisches Leben im Mittelalter, 1983, S. 151f.). In noch späteren Jahren in Osteuropa trugen Jüdinnen Kopftücher, in jiddischer Sprache „Tichel“ genannt, Christinnen und Musliminnen (z.B. Tartarinnen im litauisch-polnischen Großfürstentum) trugen ebenfalls Kopftuch, benutzten dafür aber Begriffe ihrer jeweiligen Sprache. Kopftücher waren verbreitet und schützten auch ohne religiöse Begründung die Haare beim Saubermachen und vor der staubigen Luft im Sommer auf dem Land. Die Haare wusch man sich selten, besonders ungern mit kaltem Wasser im Winter.
„Jede Frau aber, die betet oder prophetisch redet und dabei ihr Haupt nicht verhüllt, entehrt ihr Haupt. Sie unterscheidet sich dann in keiner Weise von einer Geschorenen. Denn wenn eine Frau sich nicht verhüllt, soll sie sich doch gleich scheren lassen. Ist es aber für eine Frau eine Schande, sich die Haare abschneiden oder sich kahl scheren zu lassen, dann soll sie sich auch verhüllen. Der Mann darf sein Haupt nicht verhüllen, weil er Abbild und Abglanz Gottes ist; die Frau aber ist der Abglanz des Mannes. Denn der Mann stammt nicht von der Frau, sondern die Frau vom Mann. Der Mann wurde auch nicht für die Frau erschaffen, sondern die Frau für den Mann. Deswegen soll die Frau Acht haben auf ihr Haupt um der Engel willen. Doch im Herrn gibt es weder die Frau ohne den Mann noch den Mann ohne die Frau. Denn wie die Frau vom Mann stammt, so kommt der Mann durch die Frau zur Welt; alles aber stammt von Gott. Urteilt selber! Gehört es sich, dass eine Frau unverhüllt zu Gott betet? Lehrt euch nicht schon die Natur, dass es für den Mann eine Schande, für die Frau aber eine Ehre ist, lange Haare zu tragen? Denn der Frau ist das Haar als Hülle gegeben. Wenn aber einer meint, er müsse darüber streiten: Wir und auch die Gemeinden Gottes kennen einen solchen Brauch nicht.“
So heißt es bei Paulus (1.Kor. 11,5-16, Einheitsübersetzung). Der Text ist hochgradig auslegungsbedürftig. Man fragt sich, ob die von Paulus postulierte Kopfbedeckungspflicht für immer gelten sollte, oder nur, wenn Frauen beten oder prophetisch reden, ob sie „wegen der Engel“ angeordnet wurde, aus dem Verhältnis von Christus zur Gemeinde folgt, aus der „Natur“ des Verhältnisses von Mann und Frau oder aus einem Brauch der Gemeinden. Hinzu kommt, dass Paulus die Gemeinde auffordert, „selbst“ zu urteilen, dieses Urteil aber vorwegnimmt und nichts darüber schreibt, was wäre, wenn spätere Gemeinden anders urteilten. Warum reden die Frauen überhaupt, wenn sie einige Kapitel später (1. Kor. 14,33-35) unter gewissen Bedingungen dazu aufgefordert werden, in der Kirche zu schweigen? Über die Auslegungsprobleme sind Bibliotheken von Büchern geschrieben worden. Ich belasse es bei einer Problemanzeige.
Voraussetzung für das Urteil des Korans zum Kopftuch, ist die im damaligen arabischen Raum übliche Praxis, wonach Frauen, insbesondere arme Frauen, ein einteiliges rechteckiges Gewand trugen, das in der Mitte eine Kreisrunde Öffnung für den Hals enthielt, und vorne einen Schlitz, damit es beim Anziehen über den Kopf gezogen werden konnte. Da es weder Knöpfe noch Reißverschlüsse gab, konnte man(n) durch den Schlitz möglicherweise ihre Brust sehen. Deshalb trug sie ein zweites Kleidungsstück, einen „Chumur“, eine Art Schal um Kopf und Oberkörper, die den Schlitz bedeckte. Diese Praxis setzte der Koran voraus:
„Und sag den gläubigen Frauen, sie sollen (statt jemanden anzustarren, lieber) ihre Augen niederschlagen, und sie sollen darauf achten, daß ihre Scham bedeckt ist (w. sie sollen ihre Scham bewahren), den Schmuck, den sie (am Körper) tragen, nicht offen zeigen, soweit er nicht (normalerweise) sichtbar ist, ihren Schal sich über den (vom Halsausschnitt nach vorne heruntergehenden) Schlitz (des Kleides) ziehen und den Schmuck, den sie (am Körper) tragen, niemand (w. nicht) offen zeigen, außer ihrem Mann, ihrem Vater, ihrem Schwiegervater, ihren Söhnen, ihren Stiefsöhnen, ihren Brüdern, den Söhnen ihrer Brüder und ihrer Schwestern, ihren Frauen (d.h. den Frauen, mit denen sie Umgang pflegen?) ihren Sklavinnen (w. dem, was sie (an Sklavinnen) besitzen) den männlichen Bediensteten (w. Gefolgsleuten) die keinen (Geschlechts) trieb (mehr) haben, und den Kindern, die noch nichts von weiblichen Geschlechtsteilen wissen. Und sie sollen nicht mit ihren Beinen (aneinander) schlagen und damit auf den Schmuck [Fußringe] aufmerksam machen, den sie (durch die Kleidung) verborgen (an ihnen) tragen (w. damit man merkt, was sie von ihrem Schmuck geheimhalten). Und wendet euch allesamt (reumütig) wieder Gott zu, ihr Gläubigen! Vielleicht wird es euch (dann) wohl ergehen.“ (Sure 24,31 nach https://corpuscoranicum.de/index/index/sure/24/vers/31)
Der Schal sollte also ihre Brust und etwaigen Schmuck verdecken, bedeckte faktisch aber auch ihre Haare. Was daraus folgt, wenn frau BH’s trägt, einen Pullover, ein mehr (oder weniger) freizügiges Dekolleté oder eine bis oben hin zugeknöpfte Bluse mit oder ohne Brosche versteht sich nicht von selbst, sondern bleibt Auslegungssache. Von Zainab bint Ali, einer Enkelin Mohammeds, wird nicht nur berichtet, dass sie Gedichte schrieb und predigte, sondern auch, dass männliche Verehrer ihrer Dichtkunst ihre Frisur nachzuahmen versuchten, woraus einige Historikerinnen heute schlussfolgern, dass ihre Haare sichtbar gewesen sein müssen. Falls das korrekt sein sollte, handelte es sich nicht um den Normalfall. Praktiziert und später durch die verschiedenen Rechtsschulen für normativ erklärt wurde die Kopfbedeckung, wobei alle möglichen Formen üblich wurden oder vorislamisch schon verbreitet waren: ein Kopftuch, bei dem wie bei Romy Schneider oder Grace Kelley viele Haare zu sehen sind (Shayla), eines, bei dem keine Locke herausschaut (Hijab), ein Ganzkörperteil, bei dem das Gesicht frei bleibt (Tschador), ein Schleier über dem Gesicht, der einen Augenschlitz freilässt (Niqab) und die Burka, die auch das Gesicht bedeckt, aber von Innen eine Art Gitterblick freilässt.
Auf dem indischen Subkontinent ist der Sari verbreitet, ein großes rechteckiges Tuch ohne Knöpfe oder Bänder, das Frauen, die damit aufgewachsen sind, ohne dass etwas verrutschen könnte, um ihren Körper schlingen. (Wer nicht damit aufgewachsen ist, scheitert in der Regel, oder benutzt Sicherheitsnadeln). Der Sari kann entweder über eine Schulter oder über Kopf und beide Schultern gelegt werden. Musliminnen führen ihn meist über den Kopf, womit sie kein Kopftuch benötigen. Wie ich in Bangladesch erstaunt beobachten konnte, schließt das nicht aus, dass (meist jüngere und schlanke Frauen) ihren Bauchnabel dabei frei lassen. Bei uns wird seit einigen Jahren von einer zunehmenden Zahl Musliminnen ein sämtliche Haare bedeckender Hijab mit einer eng anliegenden, Figur betonenden Jeans kombiniert. Kopftuch und betont sexy: Es gibt nichts, was es nicht gibt.
Im orthodoxen Judentum besteht die Möglichkeit, die echten Haare durch eine Perücke zu überdecken. Dann ist zwar der Kopf bedeckt, doch lassen sich Echthaarperücken für Außenstehende kaum erkennen. Auf dem Bild sehen Sie einen Gottesdienst der russisch-orthodoxen Maria-Obhut-Kirche in Düsseldorf. Warum tragen die Frauen Kopftuch? Ich habe sie nicht danach gefragt, aber wahrscheinlich würden sie sagen, dass das in russisch-orthodoxen Kirchen so üblich ist. Mein in Deutschland aufgewachsener Großvater nahm bei den seltenen Gelegenheiten, an denen er eine Kirche betrat, den Hut ab. Meine kindliche Frage, warum er das mache, beantwortete er, dass das früher so üblich gewesen sei: Im Mittelalter hätten die Ritter Helme getragen und beim Betreten der Kirche abnehmen müssen. Frauen hätten nie Helme getragen und behielten ihren Hut in der Kirche deshalb auf; außerdem sorgten sie sich meist mehr, dass ihre Frisur verrutschen könne. – Hatte mein Großvater Recht? Lag es wirklich an den Rittern? Ich weiss es nicht, möchte aber vermuten, dass es eher am ersten Korintherbrief lag.
Warum tragen Musliminnen Kopftuch? Wenn man es nicht ohnehin schon besser zu wissen meint als sie selbst, könnte man sie fragen. Eine repräsentative Umfrage (Muslimisches Leben in NRW, 2010, S 100ff) hat das gemacht. Mehrfachnennungen waren möglich. 92,2 % der befragten volljährigen Kopftuchträgerinnen gaben an: „aus religiöser Pflicht“, 46,3 %: „vermittelt mir Sicherheit“, 43,2 %: „um in der Öffentlichkeit als Muslimin erkennbar zu sein“, 26,5 %: „aus Tradition“, 14,1 %: „Schutz vor Belästigung von Männern“, 13,8 %: „aus sonstigen Gründen“, 7,8 %: „Erwartungen/Forderungen der Familie“, 6 %: „Erwartungen/Forderungen des Partners“, 6,0 %: „Erwartungen der Umwelt“, 3,2 %: „aus modischen Gründen“. Demnach wird die Religion fast immer als Grund angegeben. Schutz vor Belästigung vor Männern versprechen sich 14,1 %, etwas mehr als (zusammengerechnet) diejenigen, die das Kopftuch ihrer Familie oder ihrem Partner zuliebe tragen. Wie viele Musliminnen aus Rücksicht auf den Arbeitgeber oder aus Schutz vor Belästigung vor Rechtsradikalen kein Kopftuch tragen, wissen wir nicht. Ebensowenig wurde erhoben, wie viele Frauen auf Wunsch ihrer Familie oder ihres Partners auf das Kopftuch verzichten.
Sicher ist: Die Entscheidung, was frau anzieht, trifft sie in einem persönlichen und gesellschaftlichen Umfeld, das durch vielerlei Machtstrukturen und Erwartungen gekennzeichnet ist. Dazu gehört auch die Entscheidung einer beachtlichen Anzahl von Frauen, die sich dafür entscheiden, das Kopftuch „selten“, „manchmal“ oder „oft“ zu tragen, also flexibel auf die Erwartungen ihres jeweiligen gesellschaftlichen Umfeldes zu reagieren.
(wird fortgesetzt)