Krieg in der Ukraine – und die orthodoxe Kirche?

Dr. Uwe Gerrens
von Dr. Uwe Gerrens

Kirche, das sind für mich nicht primär die Patriarchen, Metropoliten, Erzbischöfe, Bischöfe und Priester, Kirche das sind – so meine protestantische Grundentscheidung – sämtliche Getauften. Was die in Russland russisch-orthodox getauften Christ:innen über den Ukraine-Konflikt denken, könnte man durch Meinungsumfragen ermitteln, wenn das möglich wäre. Lesen kann man nur die veröffentlichten Stellungnahmen der russisch-orthodoxen und anderer Kirchenleitungen. Darauf muss ich mich im Folgenden beschränken, was allerdings nichts an meiner Grundüberzeugung ändert, dass man Kirchenleitungen an sich nicht überschätzen sollte.

I: Kurze Übersicht über die orthodoxen Kirchen vorweg:
Die orthodoxe Kirche existiert nicht als institutionelle Einheit, denn die orthodoxen Kirchen organisieren sich – vereinfacht dargestellt – national.  Einige tendieren zu nationalreligiöser Vermischung zwischen Religion und Nationalismus. Das verbindet sie mit dem Protestantismus, der auch eine – problematische – nationalprotestantische Tradition kennt.  

Altkirchlich gedacht gibt es vier Patriarchate, nämlich, ihrer Entstehung nach, Jerusalem, Antiochien, Alexandrien und Konstantinopel. Damals wurde, besonders im Osten, auch der Papst manchmal als Patriarch angesehen, nämlich als Patriarch von Rom. Im Osten hat sich das 330 n.Chr. von Kaiser Konstantin am Bosporus als „Neues Rom“ gegründete Konstantinopel in den Vordergrund gedrängt; seit dem Konzil von Chalcedon (451 n.Chr.) gilt es als die Nummer 1 unter den gleichberechtigten Patriarchaten des Ostens, dem Anspruch nach zuständig für die gesamte ‚zivilisierte‘ Welt, also das römische Reich bis an die Enden des Erdkreises (griechisch: Ökumene). Deshalb trägt das konstantinopolitanische Kirchenoberhaupt den Titel „Ökumenischer Patriarch“. Auch wenn die Zahl griechisch-orthodoxer Christen in der Türkei heute sehr übersichtlich ist, und ihm außerhalb der Türkei nur sehr kleine Diözesen (auf Kreta, Inselgruppe Dodekanes, Mönchsrepublik Athos) direkt unterstellt sind, hält man am traditionellen Titel und Anspruch fest.  

Russisch-orthodoxe Kirche: Die Eroberung Konstantinopels durch den osmanischen Sultan Mehmed im Jahr 1453, schwächte das Ökumenische Patriarchat politisch und bot Moskau die Möglichkeit, sich selbst zum „dritten Rom“ auszurufen, seit 1448 mit eigenem Kirchenoberhaupt („autokephal“), später mit eigenem Patriarchen, 1590 in Konstantinopel (Istanbul) zähneknirschend anerkannt.  1721 schaffte Zar Peter (der „Große“) das Patriarchat ab, weil es seinen absolutistischen Neigungen im Wege stand, und führte eine Art landesherrlichen Kirchenregimentes ein. 1917, mitten während der Oktoberrevolution, wurde das Patriarchat in Moskau wieder eingeführt, der erste Patriarch Tychon von den Bolschewiki mal geduldet, mal eingesperrt, mal drangsaliert. Die ihm nachfolgenden Patriarchen unterlagen den Launen sowjetischer Kirchenpolitik, Religion im Lande des „wissenschaftlichen Atheismus“. Die zwei postsowjetischen Patriarchen (Alexius II. ab 1990, Kyrill I. seit 2007) sollen für den KGB gearbeitet haben, jedenfalls behauptet das 1992 ein vom KGB zum MI6 übergelaufener KGB-Oberst namens Wassili Nikititsch Mitrochin. Die Notizen, die Mitrochin während seiner 30jährigen Amtszeit beim KGB zu allen möglichen V-Leuten gemacht haben will, kann man online als Faksimile und in englischer Übersetzung nachlesen. Trotz sehr ernsthafter Bemühungen konnte ich kein eindeutiges Urteil über den Quellenwert treffen: Auch der entsprechende Wikipedia-Artikel durchdringt den Geheimdienstdschungel nicht, vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Mitrokhin_Archive   Mitrochins Notizen sind entweder echt oder sehr intelligent erfunden. Sicher ist: Kyrill I. und Putin kennen sich seit den siebziger Jahren aus St. Petersburg – damals noch Leningrad -­ und stehen einander auch persönlich nahe.  

Ukrainisch griechisch-katholische Kirche: Die Ukraine liegt zwischen dem heutigen Russland und dem heutigen Polen. Diejenigen Teile, die an 1596 Polen-Litauen fielen, durften ihre orthodoxe Liturgie beibehalten, unterstellten sich aber dem Papst und werden „ukrainisch griechisch-katholische“ Kirche genannt. Mit den polnischen Teilungen im achtzehnten Jahrhundert wurde der russisch gewordene Teil zwangsweise in die russisch-orthodoxe Kirche eingegliedert, der habsburgisch gewordene blieb „griechisch-katholisch“, und versuchte sich nach 1918 (Wiedergründung des Staates Polen) der Zwangspolonisierung zu erwehren. In sowjetischen Zeiten wurde man zwangsweise wieder russisch-orthodox und existierte nur noch im Untergrund bzw. im Ausland (regelmäßige Gottesdienste noch zu sowjetischen Zeiten in der Heilig-Geist-Kirche in Düsseldorf-Pempelfort).  

Für ordnungsgemäße Weihen benötigt man in der Orthodoxie einen Patriarchen und eine „kanonische Anerkennung“. Die „Orthodoxe Kirche der Ukraine“ entstand 2018 als Fusion zweier nicht anerkannter Kirchen. Für die kanonische Anerkennung sorgte der Ökumenische Patriarch (in Istanbul), der im Januar 2019 die Orthodoxe Kirche der Ukraine für eigenständig erklärte und die Wahl des Kiewer Metropoliten zum Patriarchen anerkannte. Weitere (griechisch-)orthodox geprägte Kirchen schlossen sich dem an, das Moskauer Patriarchat hingegen protestierte, erklärte die Kiewer für schismatisch (abspalterisch) und brach die eucharistische Gemeinschaft (Abendmahlsgemeinschaft) ab. In Düsseldorf besitzt die Orthodoxe Kirche der Ukraine bisher keine eigene Kirche (der nächste Erzpriester befindet sich in Bergisch-Gladbach), doch gibt es gelegentliche Gottesdienste in Eller.

Die „ukrainisch-orthodoxe Kirche“ hat einen eigenen Metropoliten in Kiew, ist aber dem Moskauer Patriarchat unterstellt. Damit ist sie kirchenrechtlich vom Moskauer Patriarchen abhängig, zumindest etwas; etwaige Konflikte müssen im Einzelnen ausgehandelt werden.

Foto: Sophienkathedrale Kiew (11. Jhdt.), Foto: Navigator334, Wikimedia Commons, Lizenz: CC BY-SA 4.0

Aufgrund der komplizierten Geschichte war und ist die Zugehörigkeit bestimmter Kirchengebäude oder Gemeinden zu einer bestimmten Kirche strittig. Beispielsweise erhoben alle drei Kirchen Ansprüche auf die Kiewer Sophienkathedrale, die der ukrainische Staat deshalb zum Museum erklärte und niemandem zusprach. Anlässlich des Todes eines Patriarchen der noch sehr jungen Ukrainisch-orthodoxen Kirche (Kiewer Patriarchat, wie man damals sagte) kam es 1995 zu einer sehr handfesten Prügelei mit diversen Verletzten über die Frage, ob er in oder zumindest neben der Kathedrale beerdigt werden dürfe. Das Gebäude durfte 2018/19 für die Weihe eines eigenen Patriarchen der Orthodoxen Kirche der Ukraine benutzt werden, wogegen Moskau protestierte.

II. Orthodoxe Stellungnahmen zum Ukraine-Krieg
Aus dieser komplizierten Geschichte ergeben sich die meisten gegenwärtigen Positionen zum Ukraine-Krieg mit großer Folgerichtigkeit. Dass die ukrainisch griechisch-katholische Kirche und die Orthodoxe Kirche der Ukraine den russischen Angriff ablehnen, erklärt sich von selbst. Nicht ganz so selbstverständlich ist die ablehnende Haltung der eben doch nicht immer moskautreuen ukrainisch-orthodoxen Kirche, die in einer an den Moskauer Patriarchen Kyrill gerichteten Botschaft vom 28. Februar diesen sehr eindeutig gebeten hat, für eine sofortige Beendigung des Krieges einzutreten. Ich finde den Text erfreulich klar. https://zeitschrift-osteuropa.de/blog/botschaft-der-heiligen-synode-der-ukrainischen-orthodoxen-kirche-vom-28-februar-2022/?fbclid=IwAR3N7KrAoJ6F0CtULytbX_fHtaHW_LpjAkj-NOYuZE17RAN02MAG4tO-Zw4

Dass Patriarch Kyrill I. in Moskau das anders sehen würde, stand angesichts seines guten Drahtes zu Putin zu erwarten. Kyrill spricht nicht in Kriegsrhetorik, natürlich nicht, denn offiziell betreibt Russland ja gar keinen Krieg, sondern hat nur einige Maßnahmen zur Bekämpfung von Nazis, Terroristen und Drogenabhängigen ergriffen. Allerdings beantwortet Kyrill nicht mehr alle Briefe, die ihn auffordern, sich vom Krieg zu distanzieren. Er beschränkt sich darauf, sonntags für die Einheit des Landes zu beten oder Putin vier Tage nach Kriegsbeginn zum Tag des Vaterlandverteidigers (23.2.) zu gratulieren und – ganz allgemein – den Militärdienst als Akt der Nächstenliebe zu verteidigen. Gebet hier https://mospat.ru/en/news/89032/ Aufruf hier https://mospat.ru/en/news/89020/

Der Weltkirchenrat in Genf forderte Kyrill keineswegs nur auf, zwischen Putin und der Ukraine zu vermitteln (auch wenn es Pressemeldungen gab, die das so wiedergaben); er forderte ihn vor allem auf, seine Stimme für die leidenden Brüder und Schwestern in der Ukraine zu erheben, „to intervene and mediate with the authorities to stop this war, the bloodshed and the suffering, and to make efforts to bring peace through dialogue and negotiations.“. Das ist freundlich formuliert, aber eindeutig, der vollständige englische Text hier https://www.oikoumene.org/de/node/72548 Das Schreiben ist unterzeichnet von Generalsekretär Ion Sauca, der persönlich der vom Moskauer Patriarchat unabhängigen rumänisch-orthodoxen Kirche angehört. Soweit ich weiß, hat Kyrill bisher nicht geantwortet.

Interessant sind die Stellungnahmen im Westen lebender Metropoliten, die zum Moskauer Patriarchat gehören. Das Schreiben des in Paris ansässigen russisch-orthodoxen Metropoliten von Westeuropa ist eindeutig kritisch, deutsch hier https://archeveche.eu/de/kommunique-des-metropoliten-johannes-und-des-rats-der-erzdioezese/  Der Metropolit der russisch-orthodoxen Auslandsgemeinden in Deutschland (Berliner Diözese, zum Moskauer Patriarchat gehörig) eierte in einer (hörenswerten!) Videobotschaft recht lange herum, warb für Verständnis für die russisch-orthodoxe Kirche, sogar für die russische Regierung und ihren Präsidenten, kam aber schließlich doch noch zu einer „völligen Ablehnungen dieser Handlungen, die jetzt passieren“, der „Kriegshandlungen“, und rief zur Unterstützung der Flüchtlinge in Deutschland auf; gleichzeitig ließ er die Kollekte für die Ukrainische orthodoxe Kirche einsammeln und erklärte ausdrücklich, man werde damit unterschiedliche Menschengruppen gleichermaßen unterstützen https://www.youtube.com/watch?v=jF_D969sGXg (die wenigen Moskau-kritischen Bemerkungen ab 3:26ff). Eine ganze Reihe russisch-orthodoxer Gemeinden in Deutschland hat die liturgisch im Hochgebet an sich vorgeschriebene Fürbitte für den Patriarchen in Moskau ausgesetzt, die traditionelle Form einer Aufkündigung der Kirchengemeinschaft („nicht mein Patriarch“). Auch etliche Bischöfe der angeblich moskautreuen ukrainisch-orthodoxen Kirche haben Pressemeldungen zufolge am vergangenen Sonntag die Fürbitte für den Patriarchen entfallen lassen.

Beharrlich schweigt die orthodoxe Bischofskonferenz in Deutschland, zu der orthodoxe Bischöfe griechischer, russischer, serbischer, rumänischer, bulgarischer, georgischer und ukrainischer Herkunft gehörten. Allerdings ist die russisch-orthodoxe Kirche schon 2018 aus der Bischofskonferenz ausgezogen, als das Moskauer Patriachat wegen des Streites um die Errichtung des Kiewer Patriarchates die Beziehung zu sämtlichen orthodoxen Kirchen, die im Zusammenhang mit dem ökumenischen Patriarchat standen, abgebrochen hatte, diese für schismatisch erklärt und die eucharistische Gemeinschaft (gemeinsame Abendmahlsfeiern etc.) beendet hatte. Die letzte Pressemeldung von der Homepage der deutschen orthodoxen Bischofskonferenz stammt vom November 2021. Hofft man in der gegenwärtigen Situation immer noch, durch Schweigen die russisch-orthodoxen Bischöfe zurückzugewinnen? Oder ist man nur so grottenschlecht organisiert, dass man eine Pressemeldung nicht auf die Reihe bekommt?  

Insgesamt fällt auf, dass Theologie in fast allen Stellungnahmen unterschiedlichsten Inhaltes nur eine sehr kleine Rolle spielt, wenn überhaupt. Man argumentiert nicht, man gibt ‚statements‘ ab. Bezugnahmen auf eine irgendwie geartete biblische Botschaft fehlen weitgehend. Orthodoxe Sozialethik, die es ja gibt, spielt in der veröffentlichten Kirchenpolitik keine Rolle. Trotz aller Abhängigkeit der Metropoliten von „ihrem“ Moskauer Patriarchat: Dem ukrainischen wie dem französischen Metropoliten gelingt ein selbständiges und kritisches Urteil über russische Kriegspolitik; dem deutschen nur teilweise.

(Abgeschlossen am 8.3.2022)

4 Kommentare

  1. Christian Blankenstein

    Der Autor ist nicht ganz richtig informiert. Der Sitz der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche in D befindet sich in KÖLN. Das Dekanat gibt es bereits seit 25. Jahren und es unterhält Gemeinden in Europa.
    MfG

  2. Ja stimmt, aber habe ich etwas anderes behauptet?

  3. Jeremias Weber

    Der Autor ist weiterhin auch beim Ökumenischen Patriarchat falsch informiert: Tatsächlich gehören die griechischen Diözesen im Ausland (wie zum Beispiel die griechische Kirche in Deutschland) zum Ökumenischen Patriarchat!

    Deswegen ist der Vorsitzende der Orthodoxen Bischofskonferenz hier ja Metropolit Augoustinous.

    • Auch das stimmt, auch da habe ich nirgends das Gegenteil behauptet. Die griechisch-orthodoxe Kirche im Ausland gehört zum Ökumenischen Patriarchat. Die russisch-orthodoxe Kirche im Ausland gehört zum Moskauer Patriarchat, ist aber 2018 aus der deutschen orthodoxen Bischofskonferenz ausgezogen. Die ukrainisch griechich-katholische Kirche ist katholisch, gehört also zum Papst in Rom.

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