„Lieber Himmel gieb, dass wir freien Geistes seien, alles andre kannst du für dich behalten“ (Nietzsche 1875 in einem Brief)

Harald Steffes
von Harald Steffes

Zum 120. Todestag Friedrich Nietzsches

Er ist der am häufigsten zitierte deutschsprachige Philosoph. Das gilt nicht unbedingt für Lehrbücher der Philosophie. Das gilt aber gewiss für das Feuilleton. Irgendein Nietzsche-Zitat wird sich schon finden, wenn man provozieren möchte. Man staunt, wie wenig dabei völlige Ahnungslosigkeit um die jeweiligen Texte und Kontexte ein Hinderungsgrund für weitschweifige Äußerungen über den Philosophen ist. Ein wenig gewinnt man den Eindruck, je öfter er zitiert wird, desto weniger wird er gelesen.

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Am 25. August jährt sich zum 120. Mal der Todestag Nietzsches, der von sich selbst angesichts der überforderten und verständnislosen Reaktionen seiner Zeitgenossen glaubte, er sei „100 Jahre zu früh gekommen“. In dieser Rechnung haben wir es also quasi mit dem 20. Todestag Nietzsches zu tun. Und das gilt im Allgemeinen als hinreichender Abstand, um einen Denker und die Irritationen, die er auslöst, zu würdigen.
Wenn wir einmal die schlimmsten und unhaltbarsten Klischees beiseite lassen („Antisemit“, „Atheist“, „Psychopath“), was fällt dann ins Auge? Für mich ist es die heftig und kantig vorgetragene Einladung, die eigene Position klarer zu sehen, nachdem der Blick an seinen Texten geschärft ist.

In einem handschriftlichen Fragment aus dem Nachlass (circa 1885/1886) erklärt er, warum er sich und seine Zeitgenossen nicht mehr für Christen hält: „Wir sind dem Christentum entwachsen, nicht weil wir ihm zu fern, sondern weil wir ihm zu nahe gewohnt haben, mehr noch weil wir aus ihm gewachsen sind – es ist unsere strengere und verwöhntere Frömmigkeit selbst, die uns heute verbietet, noch Christen zu sein – “
Solche Sätze sind für die Frommen im Lande natürlich ein Beleg, dass man es hier mit einem diabolischen Menschen zu tun hat. Weltoffene Katholiken wie zum Beispiel Hans Urs von Balthasar erklären das Phänomen Nietzsche verfallstheoretisch: seine Schriften sind quasi Symptom für den Wandel des Weltbildes in der Moderne. Diejenigen, die hier einen Menschen sehen, der nach der wahren Gestalt des Christentums sucht, bleiben in der Minderheit. Und diese Minderheit spaltet sich noch einmal. Diejenigen, die den Pfarrerssohn und abgebrochenen Theologiestudenten unter die psychologische Lupe nehmen (wollen) und meinen, sein kritisches Potenzial durch biografische Entwicklungen verharmlosen zu können, werden es irgendwann auch unterlassen, sich vom Philosophen mit dem Schnurrbart anregen zu lassen.
Dass Nietzsche gerade in kirchenfernen Kreisen konstruktiv rezipiert wird, hat mit dem Umstand zu tun, dass er das Ende der großen Theorien eingeläutet hat. Für ihn gibt es keine objektiven Wahrheiten mehr. Und etwas ist nicht schon deshalb wahr, weil es lange für wahr gehalten wurde. Für die Freunde der Kirchengeschichte: allein der Umstand, dass Nietzsche in Basel vier Jahre lang mit dem Dogmenhistoriker Franz Overbeck in einer Art Wohngemeinschaft lebte, sollte aufhorchen lassen. Als Nietzsche zum ersten Mal 1872 mit der „Geburt der Tragödie“ die Öffentlichkeit irritierte, saß Overbeck gerade an seiner Streitschrift „Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie“ (1873). Auch Overbeck bestreitet der Theologie das Recht, sich einfach christlich, d.h. mit Traditionen, zu begründen.

Um es einmal so schlicht zu formulieren, dass es nahezu schon wieder falsch ist: Glaube, Protestantismus, Christentum verlangen die Verantwortungsfähigkeit freier Geister. Das Bedürfnis, die eigene Freiheit einzutauschen gegen Sicherheit, ist immer das Ende des Glaubens (und auch der Glaubwürdigkeit).

Ein Beleg aus der „Fröhlichen Wissenschaft“ (1882):
„Die Gläubigen und ihr Bedürfniss nach Glauben. – Wie viel einer Glauben nöthig hat, um zu gedeihen, wie viel „Festes“, an dem er nicht gerüttelt haben will, weil er sich daran hält, – ist ein Gradmesser seiner Kraft (oder, deutlicher geredet, seiner Schwäche). Christenthum haben, wie mir scheint, im alten Europa auch heute noch die Meisten nöthig: desshalb findet es auch immer noch Glauben. Denn so ist der Mensch: ein Glaubenssatz könnte ihm tausendfach widerlegt sein, – gesetzt, er hätte ihn nöthig, so würde er ihn auch immer wieder für „wahr“ halten, – gemäss jenem berühmten „Beweise der Kraft“, von dem die Bibel redet. Metaphysik haben Einige noch nöthig; aber auch jenes ungestüme Verlangen nach Gewissheit, welches sich heute in breiten Massen wissenschaftlich-positivistisch entladet, das Verlangen, durchaus etwas fest haben zu wollen (…)  Wo ein Mensch zu der Grundüberzeugung kommt, dass ihm befohlen werden muss, wird er „gläubig“; umgekehrt wäre eine Lust und Kraft der Selbstbestimmung, eine Freiheit des Willens denkbar, bei der ein Geist jedem Glauben, jedem Wunsch nach Gewissheit den Abschied giebt, geübt, wie er ist, auf leichten Seilen und Möglichkeiten sich halten zu können und selbst an Abgründen noch zu tanzen. Ein solcher Geist wäre der freie Geist par excellence.“

Und „freie Geister“ sind etwas Wunderbares. Sie können in intellektueller Redlichkeit auf den Wandel der Selbstverständlichkeiten reagieren. Wobei die Selbstverantwortlichkeit des Denkens eben nicht impliziert, auf die Auseinandersetzung mit anderen Denkern zu verzichten. Bleibt am Ende die Frage, ob wir bei Nietzsche eine Selbstüberschätzung diagnostizieren wollen, oder ein wirkliches Zutrauen in das Geschöpf Mensch: „Lieber Himmel gieb, dass wir freien Geistes seien, alles andre kannst du für dich behalten“.

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PS: Anlässlich des 175. Geburtstages Nietzsches gab es im vergangenen Herbst in Basel eine wunderbare Ausstellung, die gut dokumentiert mit zahlreichen Kurzessays einlädt, Perspektiven auf Nietzsche zu entdecken. Der Katalog erschien unter dem Titel: „Übermensch. Friedrich Nietzsche und die Folgen“, herausgegeben von Benjamin Mortzfeld für das historische Museum Basel, 2019.

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