Literatur ist ein „Angstfresserchen“

Von Dr. Karin Füllner

„In der Welt habt ihr Angst“, heißt es im Johannes-Evangelium und sogleich folgt der Trost: „aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ Der Dichter und Journalist Gerd Semmer, der in den 1950er und 1960er Jahren in Düsseldorf arbeitete und publizierte, beginnt sein Gedicht „Atom Atom – es dämmert“ 1955 mit genau diesem Bibel-Zitat, fährt aber anders fort: „In der Welt habt ihr Angst./ Und die kann man auch haben.“ Die Angst wird nicht gleich beiseite gedrängt, sondern zugelassen. Die Angst ist berechtigt, die Angst gibt zu denken. Nach Hiroshima, in der Zeit des Kalten Krieges, der Zeit des großen Wettrüstens war die Angst vor der Atombombe groß und Gerd Semmer rief immer wieder zu Nachdenklichkeit und Besonnenheit auf, all seine Gedichte zeugen von seinem unbedingten Engagement für den Frieden. Ängste müssen eingestanden und benannt werden, so sein Credo, nur dann führen sie zu vernünftigen Anstrengungen sie zu überwinden.

Vom Neuen Testament zum 20. Jahrhundert und bis heute: Wir alle wissen, dass die Angst ein uraltes immerwährendes existenzielles Thema ist und uns durchaus nicht nur seit bald zwei Jahren Corona beschäftigt. Viele Aspekte sind uns allerdings vielleicht seit Corona permanent präsenter und quälen uns mehr: die Angst vor Schmerz, die Angst vor Krankheit, die Angst vor Einsamkeit und letztlich die Angst vor dem Tod, unserem und dem der anderen, die uns lieb sind.

„Literatur ist ein Angstfresserchen“, hat Sibylle Lewitscharoff, die in ihrem neuesten Roman „Von oben“ einen Toten den Himmel über Berlin erkunden lässt und ihm damit einen Rückblick auf sein eigenes Leben gewährt, jüngst in ihrer bekannt schnoddrigen Weise in einem Interview gesagt. Inwiefern? Wie hilft Literatur den Schreibenden und wie hilft sie uns, den Lesenden?

Mir geht dazu ein frühes Gedicht des jungen Harry Heine nicht aus dem Sinn, in dem das Phänomen sehr deutlich beschrieben wird:

„Wenn die Kinder sind im Dunkeln,
Wird beklommen ihr Gemüth,
Und um ihre Angst zu bannen,
Singen sie ein lautes Lied.
Ich, ein tolles Kind, ich singe
Jetzo in der Dunkelheit;
Klingt das Lied auch nicht ergötzlich,
Hat’s mich doch von Angst befreit.“

Sie alle werden das befreiende Gefühl kennen, gegen Angst anzusingen. Ich erinnere mich sehr gut, wie ich früher, als ich neben meiner Schwester Berge im Sessellift hinauffuhr – einerseits beglückt von dem grandiosen Gefühl, schwebend und gleitend die Natur in wunderbarer Weise unmittelbar zu erleben, und andererseits voller Angst vor einem möglichen Absturz ins Bodenlose – gemeinsam laut mit ihr sang, das half uns beiden. Singen befreit und sublimiert den Angstschrei. Heinrich Heines Singen ist ein Dichten, seine Lyra die Dichtkunst, mit der er uns bildlich gesprochen „ein neues Lied, ein besseres Lied“ präsentiert. Mit seiner Dichtung will er ermutigen und beitragen zur „Befreiung der Menschheit“. Auch noch der schwerkranke bettlägerige Dichter schreibt in seiner Pariser Matratzengruft, wie er sich von den Ängsten der Nacht befreit:

„Die schaurig süßen Orgia,
Das nächtlich tolle Geistertreiben,
Sucht des Poeten Leichenhand
Manchmal am Morgen aufzuschreiben.“

Das Aufschreiben, das Weitersagen hilft selbst dem Todkranken, die Geister zu vertreiben, die Angst dingfest zu machen, dem Unheimlichen zu entkommen und den Phantasien einen Namen zu geben. Worte vermögen die Ängste zu benennen und ihnen damit den Schrecken zu nehmen.

Im neuesten autobiografischen Roman „Welten auseinander“ von Julia Franck lesen wir von Angstattacken: „Es beginnt mit einem Engegefühl, das Herz rast, der Puls jagt, es treibt mir den Schweiß auf die Stirn. Ich möchte ruhig atmen, frage mich, ob das Rasen und die Angst einen Grund haben, einen Anlass. Aber nein, die Angst wächst, von Attacke zu Attacke, zu einer Angst vor der Angst und einer Angst in der Angst heran“. Schreiben, so erzählt die Autorin, hilft schon dem jungen Mädchen Julia, seine Ängste zu überwinden, indem es sie im Tagebuch festhält und Tagebücher über Tagebücher füllt. „Das Schreiben hatte im Lager angefangen“, heißt es, dort wo Mutter und Töchter nach ihrer Flucht in den Westen eine erste Bleibe finden. Vielleicht kennen auch Sie die Erfahrung des Tagebuchschreibens, haben selbst in Ihrer Jugend Tagebuch geschrieben oder schreiben möglicherweise sogar aktuell?

Und wenn wir keine Tagebücher mit unseren Ängsten füllen, nicht dichten und keine Romane schreiben? Ich denke, Literatur hilft uns auch als Leserinnen und Lesern, denn nicht nur das Schreiben, auch das Lesen ist ein aktiver Prozess. Wir lassen uns ein auf die fremden Worte, wir füllen sie mit neuem Leben. Worte können auch Schrecken einjagen und Angst allererst erzeugen, so schon in allen Mythen und Märchen, in allen Gruselromanen, Thrillern und Krimis. Die Angst vor der Hexe in „Hänsel und Gretel“ will ausgekostet sein, so habe ich es bei meiner kleinen vierjährigen Enkelin erfahren, umso größer ist anschließend das Glück des Sieges und der errungenen Freiheit. Selbst Adalbert Stifter lässt uns in seiner Erzählung „Bergkristall“ am Heiligen Abend mit zwei Kindern durch die Schnee- und Eiswüste eines Berges irren, bis die beiden am ersten Weihnachtstag endlich gefunden werden und das Weihnachtsfest umso beseelter und froher gefeiert werden kann.

Lesen ist ein Dialog mit einem fremden Text, der uns nur dann interessiert, wenn wir in ihm Antworten auf unsere Fragen finden, wenn wir in ihm einen Spiegel unserer eigenen Erfahrungen sehen, wenn er uns weiterführt und uns Neues lehrt. Es ist wie in einem guten Gespräch, das uns im gegenseitigen Austausch helfen kann, unsere Ängste zu überwinden, Lesen hat aber zudem noch den besonderen Reiz der Ästhetik. Durch ihre Schönheit kann uns Literatur verzaubern und beglücken, Dichtung kann ebenso betörend sein, wie sie uns wachrütteln kann. In ihr reflektieren wir uns im wahrsten Sinne des Wortes, wir erkennen uns wieder und können uns weiterdenken. Die Existenzangst kann uns Literatur letztlich nicht nehmen, aber ich glaube, sie befreit uns, sie beflügelt uns und sie ermutigt uns, unser Leben bewusst und vielleicht glücklicher zu leben.

„Fürchtet nur das Dunkel nicht“, heißt es in einem Gedicht Gerd Semmers in seinem Todesjahr 1967, „Fällt die Nacht auch schwarz und dicht,/ ist ein kleines Sternenlicht/ dennoch aufgegangen.“

Karin Füllner

Wenn Sie noch mehr von Dr. Karin Füllners Umgang mit Literatur erleben möchten und wie literarische Utopien einen Blick nach vorn eröffnen, können Sie sich zur Akademie am Morgen Kurs 47 (9.30 Uhr) oder 48 (11.30 Uhr) anmelden (Kirsten.Lehnhardt@evdus.de 021195757745). Am 27. Januar beginnt das Seminar und findet an sieben Terminen (jeden zweiten Donnerstag bis 12.5.22) statt.

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