Luthers Meisterwerke?!

Harald Steffes
von Harald Steffes

„Was ist Luther? ist doch die lere nitt meyn… Wie keme denn ich armer stinckender madensack datzu, das man die kynder Christi solt mit meynem heyloszen namen nennen?“ schreibt der Reformator 1522. Luther kennt seine Grenzen. Das gilt für seine Person. Das gilt für sein Werk. Das gilt für seine Schriften. Für ihn wäre die Frage letztlich abwegig, welches seiner Bücher das bedeutendste ist.
Im Zeitalter der Casting- und Rankingshows sieht das vielleicht anders aus. Man nehme spaßeshalber einmal an, die 100 führenden Luther-Experten wären versammelt und müssten festlegen, welches die schönsten und wichtigsten Schriften des Reformators, kurz: seine Meisterwerke sind. Ein Projekt, das auch abgesehen von coronabedingten Einschränkungen wohl zum Scheitern verurteilt wäre. Viel zu unterschiedlich sind Luthers Schriften, als dass man einen klaren Kriterienkatalog entwerfen könnte, um ein Ranking zu erstellen. Und doch wird medial genau dieses Spiel derzeit mancherorts betrieben.
Müsste nicht aufgrund ihrer sprachlichen Schönheit und ihrer Bedeutung für die Entwicklung einer gemeinsamen deutschen Sprache auf Platz 1 seiner Werke seine Bibelübersetzung stehen? Beziehungsweise, da es sich um einen längeren Prozess mit  zahlreichen Zwischenstufen handelt, seine Bibelübersetzungen?
Könnte man nicht dafür plädieren, seine 95 Thesen zum Ablass aus dem Oktober 1517 aufgrund ihrer Bekanntheit und als Anstoß einer großen Entwicklung zu priorisieren?
Sollte man nicht an die Spitze seiner Texte die Katechismen stellen, weil er in ihnen alles, was ihm wirklich wichtig erscheint, zusammenfasst?
Ist nicht die Disputation über den Menschen von 1536 derjenige Text, der die weitreichensten philosophischen Implikationen hat? Ist nicht die Einsicht, dass die Vernunft (bei aller Ambivalenz) einerseits die Spitze der natürlichen Kräfte des Menschen darstellt, und dass andererseits die Philosophie eben die Begrenzung der Vernunft aufgrund des Sündenfalls nicht nachzuvollziehen weiß, als unabdingbare Voraussetzung des Gesprächs zwischen Philosophie und Theologie unbedingt besonders herauszuheben?
Wir brechen einmal die Liste der möglichen Favoriten und Kandidaten für Luthers Meisterwerke ab, um es kurz zu machen: die Rede von Luthers „Meisterwerken“ wird umstritten bleiben, da es unter seinen Schriften zu viele gibt, die unter einer bestimmten Perspektive Ansprüche auf diesen Titel stellen könnten. Unbestritten aber ist, dass wir in der zweiten Jahreshälfte 2020 eine sehr besondere Konstellation vor uns haben. In diesen Tagen und Wochen werden einige Schriften 500 Jahre alt, die ein spezielles Profil und eine überragende Ausstrahlungskraft haben.
Nachdem der römische Prozess gegen Luther aus diplomatischen Rücksichtnahmen lange Zeit auf kleiner Flamme vor sich hinbrodelte, konnte nach der Entscheidung, dass der  spanische Habsburger Karl V. Nachfolger des verstorbenen Kaisers Maximilian wird, nun in Rom endlich zum Angriff geblasen werden. Am 15. Juni 1520 unterschreibt Papst Leo X. jene Bannandrohungsbulle, die den Reformator vor die Entscheidung stellt: Widerruf seiner bisherigen Aussagen oder Exkommunikation. Diese Frage wird letztlich erst im April 1521 in Worms beantwortet. Aber bereits im Frühsommer 1520 kommt es unter anderem in Köln, Mainz, Löwen und Lüttich zu Verbrennungen von Lutherschriften.

Banndrohungsbulle.jpg

Inwieweit Luthers Gegenreaktion, die Verbrennung der römischen Bulle vor dem Wittenberger Elstertor im Dezember 1520, ihrerseits einige Fragen nach dem Verhältnis von Protestantismus und Fundamentalismus, Bücherverbrennung und Ökumenischem Stil aufwirft, ist eine Frage, auf die im Laufe des Jahres zurückzukommen sein wird.
Die Androhung der Exkommunikation jedenfalls spricht eine klare Sprache. Für Luther geht es nun um Leib und Leben und um die Berechtigung seines Standpunktes. Und genau dies merkt man einer Reihe von Schriften an. Anfang Juni 1520, also kurz vor der Unterzeichnung der Bulle erscheint Von den guten Werken. Schon der Titel ist bemerkenswert: Luther und gute Werke? Hatte er nicht seit drei Jahren wieder und wieder erläutert, dass die sogenannten „guten Werke“ (Fasten, Almosen, Gebete etc.) nichts zum Heil des Menschen beitragen können? Genau das hatte er. Und genau das hat schon bei seinen Zeitgenossen zu allzu bequemen Missverständnissen geführt, als müsse der Christ nur auf die Gnade vertrauen und die Lebensführung sei völlig belanglos. Nun betont Luther erneut, dass der Mensch eben nichts zu seiner Seligkeit beitragen kann, dass aber dennoch der Empfang der Gnade nahezu zwangsläufig zu einer Dankbarkeit führt, die den Menschen zu einem Handeln bringt, das ihm und dem Nächsten zugute kommt.
Am 26. Juni 1520 erscheint Vom Papsttum zu Rom, Mitte August An den christlichen Adel Deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung, am 6. Oktober De captivitate babylonica ecclesiae praeludium (Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche. Vorspiel), und schließlich im November der Freiheitstraktat in einer lateinischen und einer deutschen Fassung: De libertate christiana / Von der Freiheit eines Christenmenschen.

Titelblatt der Adelsschrift.jpeg

Bereits die dichte Abfolge der Schriften spricht für die Intensität, mit der Luther in diesen Wochen arbeitet. Dass er mit der Adelsschrift wirklich alle und jeden Lesekundigen anspricht, gerade auch im Ernstnehmen des „Priestertums aller Getauften“ konkrete Reformvorschläge vorstellt, und um Unterstützung bei deren Dringlichmachung und Durchsetzung bittet, zeigt, dass Reformation ein sozialer und politischer Prozess ist. Dass er mit der Babylonica in lateinischer Sprache einen gezielten wissenschaftlichen Diskurs über das Sakraments- und das Amtsverständnis anregt, um die Selbstüberschätzung des Priesterstandes zu hinterfragen, belegt den theologischen Charakter seiner Bemühungen. Und dass er schließlich im Freiheitstraktat jedem Lesenden die spirituellen Quellen eines christlichen Handelns nahebringen will, dass er die Freiheit gegenüber allen Übergriffen betonen und schützen möchte und gleichzeitig die notwendige Begrenzung der Freiheit in der Zuwendung zum Nächsten akzentuiert, macht die spirituelle und seelsorgliche Dimension seines Wirkens deutlich:
„Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“
Mit dieser sehr flüchtigen Charakterisierungen der Schriften des Jahres 1520 sind diese Schriften bei weitem nicht erschöpft. Jede dieser Schriften ist in allen genannten Dimensionen lesbar. Entscheidend scheint mir zu sein, dass jede dieser Schriften eine besondere Zuspitzung, eine besondere Ausrichtung, eine besondere Denkart anzielt. Nicht darin sind sie Meisterwerke, dass sie ewige Weisheiten auf schön etikettierte Flaschen zögen. Meisterwerke sind sie – wenn dann – darin, dass sie die Lebenswirklichkeit, die Bedürfnisse und die Lebenszusammenhänge der Lesenden im Blick haben.
Also: Was macht eine Schrift Luthers zu einem seiner Meisterwerke? Nicht dass hier von vornherein ein genialer Meister am Werk gewesen wäre. Viel eher, dass sich ein Mensch, getrieben von der Frage nach der Wahrheit des Evangeliums, den Herausforderungen gestellt hat, seinen Standpunkt in alle Richtungen zu erläutern. Die Übung macht den Meister. Und diese Übungen laden auch uns ein, uns fit zu halten: gedanklich, emotional, spirituell.
Der eigene Schreibtisch, manche Medien und nicht zuletzt das Herbstprogramm der Stadtakademie ermuntern dazu, diese Übungen zu unternehmen. Letztenendes kann es nicht um die Frage gehen, welches denn nun Luthers Meisterwerke sind. Im Mittelpunkt bleibt die Frage, ob nicht vielleicht auch Luther hilfreich sein kann, um die Herausforderungen einer christlichen Existenz zu meistern.

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